Die erregte Republik
aber offensichtlich niemand, der für so einen Unsinn zur Verfügung stehen wollte.« Struck ist sich bis heute sicher: »Selbst wenn es harte Wochen waren, bin ich heute überzeugter denn je, dass es richtig war, mir zunächst das Recht auf Genesung genommen und dann erst die Öffentlichkeit über den Befund informiert zu haben.« 172 Wie Struck handeln die meisten Politiker: Sie geben eine Erkrankung erst zu, wenn diese zumindest halbwegs auskuriert ist. Eine Ausnahme |192| gibt es im politischen Betrieb: den Rollstuhlfahrer Wolfgang Schäuble, der seit einem Attentat am 12. Oktober 1990, in dessen Verlauf der geistig verwirrte Dieter K. drei Mal auf ihn schoss, querschnittsgelähmt ist, was sich weder kaschieren noch verstecken lässt. Deswegen hat Schäuble seinem Handicap stets selbst ein Thema gemacht, öffentlich über »einen Krüppel als Kanzler« räsoniert und bei seinen mit den Jahren häufiger werdenden gesundheitlichen Krisen stets die Öffentlichkeit Anteil haben lassen. Schäuble tut dies aber nicht, weil er aus eigenem Antrieb eine andere Strategie im Umgang mit seiner Behinderung an den Tag legen möchte als die Mehrzahl seiner von Krankheiten betroffenen Kollegen. Er thematisiert seine Angewiesenheit auf den Rollstuhl, weil sie so offensichtlich ist, dass er gar nicht anders kann, als offensiv mit ihr umzugehen.
Das gelingt ihm ganz gut: Schäuble erscheint mit seinem Rollstuhl auch auf den Titelseiten seriöser Zeitungen, das Vehikel ist so etwas wie sein Markenzeichen geworden. Von Franklin D. Roosevelt, der von 1933 bis 1945 Präsident der USA war, wusste nur eine verschwindende Minderheit der Amerikaner, dass er im Rollstuhl saß. Deswegen allerdings zu glauben, dass die Zurschaustellung des Privaten von Politikern und die Berichterstattung über ihre persönlichen Lebensverhältnisse, Krankheiten und Gebrechen eine gänzlich neue Entwicklung sei, wäre ein Trugschluss. Schon immer hat es mediale Instrumentalisierungen des Privatlebens von Politikern gegeben – ausgelöst sowohl von der Politik- wie von der Medienseite. Und schon immer waren diese medialen Darbietungen des Privaten für die Politiker mit der Gefahr verbunden, nach hinten loszugehen. Die Finger lassen können die meisten vom Spiel mit der Presse dennoch nicht, und manchmal rettet sie eine strategische Allianz mit den Medien tatsächlich aus höchster Bedrängnis. Beispiele hierfür sind Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder |193| und Bundespräsident Christian Wulff: Beiden Politikern gelang es, die eigentlich hässliche Tatsache, dass sie ihre Ehefrauen verließen, mit Hilfe des
stern
(Schröder) bzw. der
Bild
(Wulff) öffentlich so umzudeuten, dass sie davon sogar profitierten. Gerade der als glatt geltende Wulff, der zwar vielleicht einmal jung, aber nie ein junger Wilder war, konnte sein Image aufpolieren: Selbst Mr. Perfect, so die Wahrnehmung vieler Menschen, ließ sich einmal durch sein Herz zu unkontrollierten Handlungen hinreißen. Das klassische Vorbild für diese Form der Flucht nach vorn lieferte der US-Vizepräsident Richard Nixon im Jahr 1952. Nixon sah sich damals Korruptionsvorwürfen ausgesetzt. In einem eigens angesetzten Fernsehauftritt trat er gemeinsam mit seinem kleinen Hund Checker auf und erklärte rührselig, dies sei das einzige Geschenk, das er jemals angenommen habe. Wenn man ihm seinen Hund wegnehmen wolle, so werde er sich von diesem trennen. Das Mitleid des Publikums war natürlich auf seiner Seite.
Das Privatleben der Politiker – die Frauen, die Kinder, der Ferienort – steht bei politischen Inszenierungen meist im Mittelpunkt. Doch Inszenierungen sind nicht darauf beschränkt. Sie zielen darauf ab, einem Politiker eine bestimmte Aura, ein Charisma zu verleihen und eine Identität zwischen seinem politischen Programm und seiner Person herzustellen. Von daher können politische Inszenierungen ein Vorteil sein, denn sie verschaffen einer bestimmten Position eine höhere Kenntlichkeit. Gleichzeitig setzen sie aber auf die auratische Überhöhung von Personen und Positionen und verdecken so die nackten Fakten. Die Zunahme der Inszenierungsdimension in der Politik hat substantielle Veränderungen der politischen Parteien und damit auch des Politischen an sich bewirkt.
Issueless politics
, Inszenierungen ohne tieferen Sinngehalt, nehmen inflationär zu. Sachverhalte, die sich jeder Regelbarkeit entziehen, werden |194| pompös zur Chefsache erklärt. Es entsteht der Eindruck politischer
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