Die erregte Republik
Bürgersinns geht dabei über die Legitimierung des politischen Entscheidungsapparats, die Bereitstellung von sogenannter Input-Legitimität, weit hinaus. »Demokratische Öffentlichkeit«, schreibt der Soziologe Dieter Rucht, »soll über den Zustand von Gesellschaft informieren, kollektive Willensbildung ermöglichen, politische Entscheidungen mit aktiver bürgerschaftlicher Beteiligung stimulieren sowie getroffene Entscheidungen legitimieren.« 187 Hierfür muss eine funktionierende politische Öffentlichkeit mindestens drei Aufgaben erfüllen: Sie muss erstens Transparenz schaffen, damit in der öffentlichen Diskussion klar markiert wird, welche Probleme anstehen, wie die Handlungsalternativen aussehen und was dies für einzelne Gruppen und den individuellen Bürger bedeutet. Hier steht die Kontrollfunktion von Öffentlichkeit im Zentrum, die verhindert, dass die Staatsmacht hinter dem Rücken ihrer Bürger agiert. Zweitens muss Öffentlichkeit zur Findung ausgleichender Kompromisse beitragen. Diese diskursiv herbeizuführen, ist eine der vornehmsten Möglichkeiten der Bürger, sich an der Demokratie zu beteiligen. Unterschiedliche Positionen, Anliegen und Vorstellungen müssen im kommunikativen Austausch auf ihre Auswirkungen abgeklopft und gegeneinander gestellt werden. Die Meinung, die sich hier herausschält, ist dann wiederum für die politisch Verantwortlichen eine Richtschnur für ihre Handlungen. Und drittens muss Öffentlichkeit dazu beitragen, die einzelnen, |214| parallel laufenden politischen Projekte in den größeren Zusammenhang einer gesellschaftlich-politischen Konzeption zu stellen. Hier hat Öffentlichkeit also eine Orientierungsfunktion, die es dem Einzelnen überhaupt erst möglich macht, sich in der Gesellschaft zu verorten, und die es umgekehrt der Gesellschaft erst erlaubt, sich als eine solche zu begreifen.
Wenn die politische Öffentlichkeit aufgrund vielfältiger Blockaden diese Funktionen nicht mehr erfüllen kann, trägt sie zwar vielleicht noch dazu bei, die auseinanderstrebenden Teile der Gesellschaft lose miteinander zu verkoppeln und einige Themen vom gemeinschaftsstiftenden Charakter einer Fußball-WM zu setzen, die in allen Segmenten der Gesellschaft diskutiert werden. Ein Abbild des politischen Prozesses liefert sie aber nicht mehr. Die ins Destruktive umgeschlagene Öffentlichkeit untergräbt dann die Legitimität politischer Institutionen, weil deren Agieren eben auf Öffentlichkeit angewiesen ist. Staatliche und politische Einrichtungen handeln nämlich stets so lange in der Annahme, mit dem Rückhalt der Bürger zu agieren, bis ihnen Impulse aus der Öffentlichkeit vermitteln, dass Teile ihres Handelns in Frage gestellt werden. Gerät aber die Praxis staatlichen und politischen Handelns gar nicht mehr in das Blickfeld der Öffentlichkeit, gibt es auch keine Signale mehr, dass bestimmte politische Handlungen auf Protest stoßen. Dann ist die Postdemokratie da. Stuttgart 21 ist hierfür ein Beispiel: Jahrelang wurde das Projekt von Kommissionen, Kommunalregierungen und Parlamentsausschüssen vorangetrieben, doch zu breiterer öffentlicher Wahrnehmung fand es erst mit dem ersten Spatenstich im Schlossgarten. Die Welle der Wut und Ablehnung kam zu spät, um die Planung noch ohne größere Verwerfungen für das einmal Beschlossene zu beeinflussen – einen sechswöchigen Baustopp lässt sich die Deutsche Bahn mittlerweile mit fünfzig Millionen Euro entschädigen –, |215| und so kam es schließlich zur Explosion. Dies zeigt: Die Öffentlichkeit erträgt Verzerrungen und Verkürzungen, ohne vollkommen funktionslos für die Demokratie zu werden – eine totale Entkoppelung von dem, was in der Politik geplant und gedacht wird, übersteht sie dagegen nicht.
Alka-Seltzer für eine verkaterte Gesellschaft
In dem Maße, in dem in Stuttgart und anderswo die Beschädigung der deutschen Demokratie sichtbar wird, gewinnt die Suche nach Therapien an Tempo. Der Ruf nach mehr direkter Demokratie wird dabei lauter und lauter. Ob die stärkere Beteiligung der Bürger an konkreten Entscheidungen aber die richtige Kur ist, bleibt abzuwarten. Denn auf blockierte Strukturen der öffentlichen Kommunikation dadurch zu reagieren, dass man diejenigen entscheiden lässt, die an den Blockaden nicht unmaßgeblich Anteil haben, kann auch heißen, den Bock zum Gärtner zu machen. Auf den ersten Blick versprächen Plebiszite, etwa über den Stuttgarter Bahnhofsneubau, für die politische Klasse
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