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Die erregte Republik

Die erregte Republik

Titel: Die erregte Republik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thymian Bussemer
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Bürgern zu. Selbst dort fragt man nicht mehr, was sie sagen, sondern warum sie es wohl sagen. Die Proteste in Stuttgart, Hamburg, Gorleben sind insofern nicht nur Proteste in der Sache. Sie betreffen viel mehr die Form von Politik. (…) Politiker, so der Eindruck, suchen den Dialog beispielsweise genau dann, wenn sie wissen, dass es gar keine Voraussetzungen für ihn gibt – damit der Eindruck des Dialogs bestehen bleibt, ohne den Preis des Dialogs in Kauf nehmen zu müssen. Das Modell dafür ist das Genehmigungsverfahren für Großprojekte. Oder eine Schulreform. Oder eine Hochschulreform. Oder eine Rechtschreibreform. Oder Europa. Immer geht es angeblich um vitale Probleme unserer Gesellschaft, aber ständig irrt sich das Volk in ihnen so sehr, dass man es – bei der Verfassung nach 1989, beim Euro, bei Maastricht, bei Integrationsfragen, bei der Atomenergie oder beim Schulsystem – nie in der Sache fragen darf.« 193
    Einen ähnlichen Nachweis hat Andreas Zielcke von der
Süddeutschen Zeitung
über den Ablauf des Planungsverfahrens für Stuttgart 21 geführt. Den Gegnern des Bahnprojekts, so Zielcke, werde vorgeworfen, sie hätten ausreichend Zeit zum Mitreden |221| gehabt und diese Chance ungenutzt verstreichen lassen. Doch nach einer Sichtung der Stuttgarter Archive lasse sich nur resümieren: »Diese Unterstellung ist schlicht falsch.« 194 Schon 1995 habe sich die Stadt Stuttgart ohne jede Bürgeranhörung oder -beteiligung in einer Rahmenvereinbarung zur Mitwirkung an dem Bahnhofsprojekt verpflichtet. Alle späteren Gerichtsurteile hätten genau diese Verpflichtungserklärung ins Zentrum gestellt und betont, die Stadt Stuttgart könne nicht durch Bürgerentscheide oder Volksbegehren dazu gezwungen werden, eine rechtswidrige Handlung zu begehen. Genau dies sei aber der Fall, wenn sie von ihrer eingegangenen Verpflichtungserklärung abrücke. Der Zug war also schon abgefahren, die Weichen unwiderruflich gestellt, lange bevor es überhaupt eine öffentliche Diskussion über das Bahnhofsprojekt gab. Es war ein bisschen wie in Douglas Adams
Per Anhalter durch die Galaxis
, wo die Pläne für die Zerstörung der Erde schon seit Jahren auf Alpha Zentauri aushingen und von jedem Erdenbewohner hätten eingesehen werden können. Diese hätten dafür nur einmal auf Alpha Zentauri vorbeischauen müssen.
    Genau dieser manipulative Umgang mit der Einbindung der Bürger aber hat hoch problematische Folgen für die Demokratie. Das Volk wird offenbar nur dann zu Rate gezogen, wenn es den Strippenziehern gerade passt. Dies zeigen zumindest die bisherigen Experimente. 1993 wurde Rudolf Scharping in einer Mitgliederbefragung zum neuen SPD-Vorsitzenden erkoren. Diese Mitgliederbefragung ging auf den Landesverband Nordrhein-Westfalen zurück, der auf diese Weise den Niedersachsen Gerhard Schröder als Parteivorsitzenden verhindern wollte. Schon zwei Jahre später putschte Oskar Lafontaine Scharping aus dem Amt – mit einer einfachen Parteitagsmehrheit. Eine Mitgliederbefragung zur Vorsitzendenwahl hat es seitdem in der SPD nicht mehr gegeben. Ein Jahrzehnt später hatte die Ablehnung |222| des EU-Verfassungsvertrags durch die skeptischen Bürger in Irland, den Niederlanden und Frankreich zur Folge, dass die wesentlichen Inhalte des Abkommens in eine Vertragsform überführt wurden, die keiner Zustimmung in Referenden unterlag. Nicht viel anders verhält es sich heute mit Stuttgart 21: Als Wahlkämpfer forderte der baden-württembergische Grüne Winfried Kretschmann eine Volksabstimmung über den Bahnhofsbau. Nun, als Regierungschef, muss er darauf hoffen, dass diese an mangelnder Beteiligung scheitert, damit er die rechtlichen Verpflichtungen erfüllen kann, die das Land Baden-Württemberg im Hinblick auf den Bahnhof eingegangen ist. Die Liste ließe sich fortsetzen. »In der öffentlichen Diskussion über Plebiszite fällt auf, wie häufig sie rein taktisch und instrumentell unter dem Gesichtspunkt befürwortet werden, ob eine Volksabstimmung helfen würde, in einer bestimmten Frage die Oberhand zu behalten«, urteilt Renate Köcher. 195 Unter dem doppelten Druck von Bürgerdrängen und Sachzwängen entsteht so eine Situation, wo direkte Demokratie von den Politikern zwar einhellig gefordert, aber selbst da nur höchst unzureichend praktiziert wird, wo sie rechtlich schon heute möglich ist. Dies ist vermutlich für die Demokratie schlimmer, als wenn man auf die Fiktion der Bürgereinbindung bei der Planung von

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