Die erregte Republik
und Bürgerbegehren unauflösliche Widersprüche: Wie verhält sich der verbreitete Wunsch |218| nach der Beibehaltung des Gymnasiums als elitärer Schulform zur OECD-Forderung nach einer signifikanten Erhöhung der Zahl der Schulabgänger mit Hochschulzugangsberechtigung und zum bei uns schmählich missachteten Postulat der Chancengleichheit? Die neue Protestkultur der Wutbürger ist vielleicht eine Ressource, um die gesellschaftliche Diskussion wieder lebendiger zu machen, ein Mittel, um Teilhabe herzustellen, die Demokratie umfassend zu revitalisieren und zukunftsfähig zu machen, ist sie dagegen nicht.
Dies ist nicht als grundsätzliches Plädoyer gegen die Einführung von mehr plebiszitären Elementen zu verstehen. Bürgerpartizipation kann durchaus Vorteile haben – man muss nur wissen, worauf man sich einlässt. Eine Volksabstimmung über ein konkretes Vorhaben wie Stuttgart 21 könnte zum Beispiel aus einem Konflikt Staat gegen Bürger eine Auseinandersetzung unter den Bürgern machen, den Staat damit als Objekt des Volkszorns aus der Schusslinie nehmen und das Ergebnis – wie immer es ausfällt – zu einem Akt wirklicher demokratischer Entscheidung machen, was zur Beruhigung der aufgeheizten Situation beitragen könnte. Mehr Partizipation kann auch helfen, die Demokratie repräsentativer zu machen, indem sie bislang nicht beachtete Themen in die Debatte einführt und neue Alternativen kenntlich macht. Bürgerbefragungen können zudem einen Anteil daran haben, in den Medien verzerrt kolportierte Stimmungsbilder zu korrigieren. All dies sei zugestanden. Und dennoch gilt: Die Einführung direkter Demokratie als Ausweg aus einer zunehmend blockierten Republik macht keinen Sinn, solange die Kommunikationsverhältnisse der Mediengesellschaft den Wert der Demokratie an sich gering schätzen und erodieren lassen, solange der öffentliche Diskurs nur in den Kategorien von »Schocks und Hypes« verläuft, wie Bernd Ulrich in der
Zeit
feststellte. Schocks sind dabei schwere Erschütterungen |219| wie die Euro-Krise, der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche und das Reaktorunglück von Fukushima, Hypes dagegen künstlich befeuerte Erregungen wie die Sarrazin-Debatte, die Wikileaks-Enthüllungen oder Joachim Gaucks Bundespräsidenten-Kandidatur. Beide, Schocks und Hypes, werden unsere Gesellschaft weiter begleiten. Man müsse anerkennen, so Ulrich, »dass heutzutage jeder Versuch aussichtslos ist, die Emotionen der Bürger zu unterdrücken oder totzuschweigen. Weder Wut wie bei Stuttgart 21 und bei Sarrazin noch Sehnsucht wie bei Joachim Gauck oder Karl-Theodor zu Guttenberg lassen sich auf Dauer kanalisieren.« 192
Plebiszite als Placebos
Da die Politiker zumindest in reflektierten Momenten durchaus um die Risiken des ungebremsten Volkswillens in der Stimmungsdemokratie wissen, inszenieren sie Bürgerbeteiligung oft lieber, als diese wirklich zuzulassen – was die Abwärtsspirale der Demokratie nur weiter beschleunigt, denn wer schon gefragt wird, will auch, dass seine Antwort einen Unterschied macht. Jürgen Kaube hat in der
F.A.Z.
eine Episode geschildert, die zeigt, wie die Menschen auf den taktischen Umgang der Politik mit dem Bürgereinfluss reagieren. Die Geschichte spielt im Sommer 2010, als Angela Merkel ihre »Energie-Reise« – damals ging es noch um die von Merkel beabsichtigte Laufzeitverlängerung, nicht um die nun von ihr durchgesetzte Abschaltung der AKWs – durch Deutschland machte und zum Abschluss nach Darmstadt kam. Von dort erreichte die
F.A.Z
.-Redaktion wenig später ein Anruf: »Die Anruferin, eine Dame Anfang siebzig, berichtete vom Auftritt der Kanzlerin. Man habe diese auch nach der Atomenergie und den Laufzeiten gefragt, |220| und die Kanzlerin habe sinngemäß geantwortet, Genaues könne sie noch nicht sagen. Das Gutachten, das dazu in Auftrag gegeben worden sei, liege nämlich erst seit heute, dem Tag des Besuchs in Darmstadt, vor. Das fand die Anruferin erstaunlich. ›Wieso macht die Kanzlerin eine Reise mit dem Thema Energiepolitik, wenn sie noch nicht sagen kann, welche Energiepolitik sie vorhat?‹ Und nach einer kurzen Pause: ›Aber vielleicht war sie ja genau deshalb in Sachen Energiepolitik unterwegs, weil noch kein Gutachten vorlag. Sie wollte noch so tun, als sei alles offen. Sie wollte noch nichts sagen können.‹« Kaube schlussfolgert aus diesem Anruf: »Selbst in der Mitte der Gesellschaft traut man der Politik inzwischen einen rein taktischen Umgang mit den
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