Die erregte Republik
Entlastung: Politiker könnten sich durch die Delegation strittiger Entscheidungen an das Volk im Rahmen fakultativer Referenden aus der Verantwortung stehlen. Allerdings würden sie dann ihrer Aufgabe, in Vertretung des Volkes eigenständig politische Lösungen zu entwickeln, nicht länger nachkommen. Dies wäre unterm Strich ein weiterer Schritt zum Abtritt der professionellen Politik. Seine Folge wäre vermutlich nicht nur eine schlechtere Regelung der Belange des Gemeinwesens, bedient würde damit auch eine zynische Haltung, gemäß der das Volk ein paar Mal im Jahr die Gelegenheit bekäme, die aus seiner Sicht völlig verlotterte Kaste der Politiker so richtig abzuwatschen. Deswegen ist zu befürchten, dass der Ruf nach einer Revitalisierung |216| der Demokratie durch mehr Plebiszite, eine Direktwahl des Bundespräsidenten und mehr Bürgerbeteiligung auf der kommunalen Ebene die Abnutzungsprobleme der Demokratie nicht beheben wird.
Umso erstaunlicher ist es, dass auch die Politik selbst mehr Bürgerpartizipation als Allheilmittel gegen die Erosion der Demokratie in Stellung bringt. Die Politiker versprechen sich von der Stärkung direktdemokratischer Elemente offenbar eine höhere Prozessqualität politischer Entscheidungen und damit eine Stärkung der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns. Doch sägen sie damit nicht an dem Ast, auf dem sie sitzen? Liefert direkte Demokratie die Politik den kurzfristigen Stimmungen und Zyklen der öffentlichen Meinung nicht noch viel brutaler aus, als es ohnehin schon der Fall ist? Verstärkt sie nicht genau jenen Zug zum Populismus und zur Vermeidung unpopulärer Entscheidungen, der schon heute den Politikern vorgeworfen wird? Hier nur zwei Befunde: 62 Prozent der Deutschen hätten im Jahr 2010 für eine Beschränkung der Zuwanderung gestimmt, 61 Prozent gegen einen EU-Beitritt der Türkei. 188 Knapp die Hälfte der in einer Allensbach-Studie Befragten äußerte die Erwartung, dass der Ausgang von Volksabstimmungen im beträchtlichen Maß vom Medientenor beeinflusst werden würde. 189 Das Plebiszit würde so zur populistischen Wunderwaffe, aufwendige Infrastrukturprojekte wären kaum noch möglich, da jede Standortentscheidung nur von der lokalen Willensbildung abhängig wäre.
In der Zunahme von Volksbefragungen lauert also ständig die Gefahr einer »Bürgerbeteiligung ohne Bürgersinn«, weil die Betroffenen in allererster Linie ihre eigenen Interessen zur Grundlage der Entscheidung machen. Thomas de Maizière, einer der nicht sehr zahlreichen Skeptiker direkter Demokratie, warnt vor dem Stillstand, den allzu viel Orientierung am |217| Bürgerwillen hervorbringen kann: »Es gibt ein starkes Gefühl: Alles soll so bleiben, wie es ist. An den Bahnhof hab ich mich gewöhnt! Migration? Schlimm genug, wenn es das in Neukölln gibt. Hauptsache, in Dahlem bleibt es, wie es ist! Das ist ein Strukturkonservatismus auf hohem materiellem Niveau. Er wird getrieben durch eine diffuse Furcht und den Willen zur Besitzstandswahrung. Wenn das unwidersprochen bleibt, steht die Politik alleine für Veränderung und die Bürgerschaft für Stillstand.« 190 Hinzu kommt: Eine weitere Zunahme von Volksentscheiden, zu denen sich Parteien und Regierungen jedes Mal neu positionieren müssten, würde zu einer Situation des Dauerwahlkampfs führen, in dem Politiker und Parteien stets die Getriebenen wären und ad hoc auf jede Stimmungsaufwallung reagieren müssten. Schon jetzt ist die Zahl von Volksbegehren und -entscheiden von nur zwölf in den 1980er-Jahren auf rund 140 in der Dekade von 2000 bis 2010 gestiegen. 191 Die meisten von ihnen scheitern zwar an mangelnder Beteiligung, führen aber trotzdem zu Polarisierung und harten Auseinandersetzungen. Politik mit Augenmaß und Ausgleich wird so immer schwieriger, denn man kann mit guten Gründen bezweifeln, dass eine stärker auf direkte Partizipation ausgerichtete politische Kultur in der Lage wäre, zentrale Zukunftsfragen adäquat zu adressieren. Die politische Energie der Bürger fokussiert primär auf konkrete, ihre unmittelbare Lebenswelt betreffende Fragen wie Bauprojekte, die lokale Infrastruktur oder die örtlichen Bildungsangebote. Die abstrakteren, aber meist ungleich wichtigeren Zukunftsfragen der Gesellschaft nach der Gestaltung der Sozialsysteme, dem demografischen Wandel, der technologischen Zukunftsstrategie oder den Koordinaten der Außenpolitik thematisieren lokale Bürgerbündnisse dagegen nicht. Oft produzieren Volks-
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