Die Erscheinung
verstand nicht, was er meinte. »So klug bin gar ich nicht, François. In meinem kleinen Haus lebe ich ruhig und bescheiden.« Sie war nicht hierher gekommen, um andere zu heilen, sondern um selbst zu genesen.
»Weil Sie dieses Land erreichen wollten, haben Sie ein riesiges Meer überquert. Sie sind eine sehr tapfere Frau, Sarah.« Eindringlich fuhr er fort: »Sie dürfen sich nicht auf Ihrer kleinen Farm verstecken.«
Was erwartete er von ihr? Sie konnte nicht mit Indianern verhandeln oder mit dem Präsidenten diskutieren, und sie hatte niemandem etwas Wichtiges zu sagen. Nun überraschte er sie mit der Ankündigung, er würde sie eines Tages mit den Irokesen bekannt machen.
»Red Jacket ist ein großartiger Mann. Sicher würden Sie ihn gern kennen lernen.«
Diesen Vorschlag fand sie beängstigend und faszinierend zugleich. Solange François in ihrer Nähe blieb, würde ihr nichts zustoßen. Davon war sie überzeugt. »Ja - das wäre sehr interessant«, stimmte sie nachdenklich zu.
»Die Irokesen besitzen heilsame Kräfte. Ähnlich wie Sie, Sarah.« Wie rätselhaft das alles klang … Als sie so im Mondschein standen, spürte sie eine sonderbare Macht, die sie unwiderstehlich zu François hinzog und ihr Angst einjagte. Ohne ein Wort, ohne eine Geste schien er sie zu umarmen. Dagegen müsste sie sich wehren. Doch sie konnte es nicht. Hilflos fühlte sie sich mystischen Kräften ausgeliefert.
Sie begleitete ihn zum Stall, wo er schlafen würde. Vor dem Tor blieb er stehen, ergriff Sarahs Hand und küsste sie. Ein Gutenachtgruß aus einer anderen Welt. So würde er sich auch verhalten, wären sie sich in Frankreich begegnet. Was für eine sonderbare Mischung er war - Irokese und Franzose, Krieger und Friedensstifter, mythisch und menschlich. Sie beobachtete, wie er den Stall betrat. Dann kehrte sie in ihr Haus zurück.
Am Morgen war er verschwunden. Auf dem Küchentisch lag ein hübsches, schmales indianisches Armband aus bunten Muschelschalen. Träumerisch legte sie es an. Ein seltsames Gefühl - zu wissen, dass er in ihrer Küche gewesen war, während sie geschlafen hatte … Er war so groß und stark, so attraktiv mit seinem glänzenden dunklen Haar. Längst hatte sie sich an seine Lederhose und die Mokassins gewöhnt. An ihm wirkte diese Kleidung ganz natürlich.
Bei der Arbeit auf ihrem Maisfeld vermisste sie ihn. Wann er wieder kommen würde, wusste sie nicht. Sie hatte eigentlich auch keinen Grund, ihn herbeizusehnen. Schließlich waren sie nur Freunde. Sie kannte ihn kaum. Trotzdem fand sie die Gespräche mit François überaus interessant, und seine Nähe wirkte beruhigend. Stundenlang konnten sie schweigend nebeneinander durch den Wald wandern. Manchmal schien der eine sogar zu wissen, was der andere dachte. Am Nachmittag ging Sarah zum Wasserfall - unfähig, den Franzosen aus ihren Gedanken zu verbannen.
Die Füße im kalten Wasser, überließ sie sich ihrem Tagtraum. Plötzlich wurde die Sonne verhüllt, und sie hob den Kopf, um zu sehen, was den Schatten warf. Bei François' Anblick zuckte sie verwirrt zusammen. »Immer wieder überraschen Sie mich!« Eine Hand schützend vor den Sonnenstrahlen über den Augen, schaute sie zu ihm auf und konnte ihre Freude nicht verhehlen. »Ich dachte, Sie wären zur Garnison geritten.«
»Ja, ich habe den Colonel getroffen …« Er schien nach Worten zu suchen, mit sich zu kämpfen.
»Stimmt was nicht?«, fragte sie ruhig, stets bereit, sich allen Problemen zu stellen. Diesen Wesenszug kannte er.
»Sieht so aus …« Sollte er weitersprechen? Wie sie sein Geständnis aufnehmen würde, wusste er nicht. So oder so, er musste es aussprechen. Den ganzen Tag hatte ihn die Erinnerung an Sarah gepeinigt. »Ich kann einfach nicht aufhören, an Sie zu denken. Vielleicht ist das gefährlich …«
»Warum?«, flüsterte sie. Er sah sie so beklommen an, dass sich ihr Herz zusammenkrampfte, und sie fühlte die gleichen Qualen wie er.
»Nun, Sie könnten mir verbieten, hierher zu kommen. Ich weiß, Sie haben viel gelitten und fürchten neue seelische Wunden. Aber ich schwöre es - ich werde Ihnen nicht wehtun.«
Das glaubte sie ihm vorbehaltlos. Sie würde es auch gar nicht gestatten. »Ich möchte nur Ihr Freund sein.« Dass er sich viel mehr wünschte, wagte er nicht zu verraten. Jetzt noch nicht. Erst musste er herausfinden, was sie für ihn empfand. Doch sie erschien ihm nicht halb so verängstigt, wie er es erwartet hatte.
»Auch ich habe oft an Sie gedacht,
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