Die Erscheinung
schöne Frau versteckt? Wahrscheinlich war sie durch eine der Glastüren hereingeschlichen. Man musste sich nur ganz leicht dagegenstemmen, und die zweihundert Jahre alten Schlösser öffneten sich sofort. Seit der Entstehung des Hauses war vieles unverändert geblieben. Zum Beispiel sah man in den mundgeblasenen Glasscheiben die Spuren erstarrter Flüssigkeit. Zu den wenigen Neuerungen zählten Strom- und Wasserleitungen -ebenfalls schon ziemlich antiquiert. Zuletzt hatte Gladys sie in den frühen fünfziger Jahren überholen lassen. Charlie hatte versprochen, darum würde er sich kümmern. Nicht auszudenken, wenn ein Kurzschluss das alte Gebäude in Brand stecken würde, das Gladys und ihre Vorfahren so sorgsam in Stand gehalten hatten …
Aber daran dachte er jetzt nicht. Er interessierte sich nur für die Frau, die er in seinem Schlafzimmer gesehen hatte. Vergeblich spähte er in alle Winkel, hinter die Vorhänge, ins Bad und in die Schränke. Nirgends war sie zu finden. Und doch - als er durch den Raum wanderte, spürte er, dass er nicht allein war. Beobachtete sie ihn?
»Was machen Sie hier?«, rief er ärgerlich. Unvermittelt hörte er Seide hinter sich rascheln, drehte sich blitzschnell um und starrte ins Leere. Und dann erfüllte ihn eine sonderbare Zufriedenheit, als hätte sie sich zu erkennen gegeben. In diesem Moment wusste er, wen er vorhin gesehen hatte, und jetzt vermutete er nicht mehr, dass ein unbefugter Eindringling durch eine der Glastüren hereingekommen war.
»Sarah?«, flüsterte er und fühlte sich wie ein Narr. Wenn sie's nicht war, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut, die ihn belauerte, um danach ihren Freundinnen zu erzählen, wie idiotisch er sich aufgeführt hatte? Nein, das glaubte er nicht. Er
spürte
Sarahs Nähe. Eine Zeit lang stand er reglos da, ließ nur seinen Blick durch den Raum schweifen, und obwohl er nichts entdeckte, wusste er, dass da jemand war. Deutlich erinnerte er sich an ihr Lächeln, das sie ihm für einen kurzen Moment geschenkt hatte - als wollte sie ihn in ihrem Schlafzimmer willkommen heißen. Instinktiv war er in den Raum gezogen, den sie mit François geteilt und wo sie ihre Kinder geboren hatte.
Sollte er ihren Namen noch einmal aussprechen? Das wagte er nicht. Konnte sie seine Gedanken lesen? Er nahm keine feindliche Aura wahr, und er fürchtete die Countess nicht. Er wünschte nur, sie würde ihm noch einmal erscheinen, damit er sie etwas länger betrachten konnte.
Schließlich ging er ins Bad und kleidete sich aus. Um sich vor der nächtlichen Kälte im Château zu schützen, hatte er einen warmen Pyjama gekauft. Den zog er an, bevor er ins Schlafzimmer zurückkehrte. Er hoffte, Sarah wieder zu sehen. Doch sie tauchte nicht auf. Nachdem er sich eine Zeit lang aufmerksam umgesehen hatte, löschte er das Licht und ging ins Bett. Die Jalousien ließ er nicht herunter, denn das Morgenlicht hatte ihn noch nie gestört. Mondschein erfüllte den Raum.
So verrückt es auch erscheinen mochte und so widerstrebend er das irgendj emandem erklärt hätte - er fühlte ihre Nähe immer noch. Dieses geheimnisvolle Wesen konnte nur Sarah sein. Sarah Ferguson de Pellerin. Der Name klang so exquisit, wie ihm ihre schöne Gestalt erschienen war. Was für eine hinreißende Frau … Und dann lachte er über sich selbst. Unfassbar, wie sehr sich sein Leben im letzten Jahr verändert hatte. Unglaublich, welch tief greifende Veränderungen seit einem Jahr in sein Leben traten … Soeben hatte er den Heiligen Abend mit einer knapp 70-jährigen verbracht, und für die restliche Nacht leistete ihm der Geist einer Frau Gesellschaft, die seit hundertsechzig Jahren tot war. Kein Vergleich zu den Weihnachtsfesten mit Carole in London … Wenn er das seinen Freunden und Bekannten erzählte, würden sie behaupten, er hätte nicht alle Tassen im Schrank, und allmählich zweifelte er selbst an seinem Verstand.
Sarahs Vision vor seinem geistigen Auge, flüsterte er ihren Namen. Keine Antwort. Was erwartete er von ihr? Irgendein Zeichen? Geister redeten nicht mit Menschen. Oder doch? Bei jener kurzen verwirrenden Begegnung hatte er den Eindruck gewonnen, die Countess wollte ihn höflich in ihrem Haus begrüßen. Jedenfalls hatte sie gelächelt.
»Frohe Weihnachten!«, rief er ins Halbdunkel, in den stillen Raum, den sie einst mit François bewohnt hatte. Wieder keine Antwort. Nur die sanfte Aura ihrer Gegenwart. Wenig später schlief Charlie im Mondlicht ein.
5
Als er am
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