Die Erscheinung
davonzulaufen und sich zu verstecken. Doch er suchte vergebens nach den richtigen Worten. Er wollte nichts von ihr. Keine Freundschaft, keine Intimität. Er stand einfach nur zufällig und kurzfristig an ihrem Lebensweg. Sogar das war ihr zu viel. Worüber mochte sie schreiben? Natürlich wagte er nicht, danach zu fragen.
Und so setzte er sich nur für seine kleine Freundin ein. »Muss sie wirklich schon ins Bett? Ist es nicht ein bisschen zu früh für den Silvesterabend? Wie wär's mit Ging er Ale für Monique und einem Glas Wein für uns?« Offensichtlich wurde dieser Vorschlag als weitere Bedrohung empfunden. Francesca schüttelte den Kopf, lehnte dankend ab und verschwand mit ihrer Tochter.
Bestürzt runzelte er die Stirn. Was musste ihr der Sportreporter angetan haben? Womit hatte er ihr einen so schweren seelischen Schaden zugefügt? Was auch immer, es musste grauenhaft gewesen sein. Zumindest glaubte sie das, und das genügte. Aber trotz des Panzers, hinter dem sie sich so beharrlich verschanzte, spürte Charlie, dass sie im Grunde ihres Herzens ein ganz anderer Mensch war.
Er setzte sich an die Bar, wo er bis halb elf blieb. Dann ging er in sein Zimmer hinauf. Er fand es sinnlos, mit anzusehen, wie alle lachten und schrien und sich betranken. So wie Gladys Palmer hatte auch er dem Silvesterabend nie besonders viel abgewonnen. Zu Mitternacht, als die Glocken erklangen und die Paare sich küssten und einander versprachen, im neuen Jahr sollte alles viel besser werden, schlief Charlie tief und fest.
Gut erholt und ausgeruht erwachte er schon zeitig am nächsten Morgen. In der Nacht hatte es zu schneien begonnen, ein eisiger Wind war aufgekommen. Deshalb beschloss Charlie, nach Hause zu fahren. Charlemont lag so nahe bei Shelburne Falls, dass er jederzeit wieder hierher kommen konnte. Deshalb sah er keinen Grund, bei schlechtem Wetter Ski zu laufen. Außerdem hatten drei Tage vollauf genügt.
Um halb elf verließ er das Hotel, und eine knappe Stunde später beheizte er schon sein Château. Ringsum sorgten neue hohe Schneewehen für wohltuende Stille. Charlie genoss die wunderbare Aussicht. Stundenlang saß er in Sarahs Boudoir, las und schaute hin und wieder durch das Fenster, um zu sehen, ob es immer noch schneite.
Erstaunlich oft dachte er an das kleine Mädchen, das er in Charlemont getroffen hatte, an die unglückliche, zornige Mutter. Er würde Monique gern wiedersehen. Doch das würde Francesca ihrer Tochter wohl kaum erlauben. Bei diesem Gedanken erinnerte er sich an die beiden Bücher, die er in die Bibliothek des Historischen Vereins zurückbringen musste. Eines hatte er Gladys Palmer geliehen. Da er sie ohnehin besuchen wollte, nahm er sich vor, am nächsten Tag das Buch zu holen. Auf dem Rückweg konnte er beide Bände in der Bibliothek abgeben.
Plötzlich hörte er ein seltsames scharrendes Geräusch im Dachboden über seinem Kopf. Unwillkürlich sprang er auf, dann lachte er über sich selbst. Wie albern, in einem geschichtsträchtigen Haus überall und jederzeit übersinnliche Aktivitäten zu vermuten … Auf den Gedanken, im Speicher könnten sich Eichhörnchen oder Ratten herumtreiben, war er zunächst gar nicht gekommen.
Er beschloss, das Geräusch zu ignorieren. Aber während er in ein paar neuen Architektur-Journalen blätterte, die er gekauft hatte, scharrte es wieder. Es hörte sich so an, als würde irgendetwas über den Boden geschleift, winzige Füße schienen zu trommeln. Natürlich, eine Ratte. Keine Sekunde lang wagte er zu hoffen, Sarahs Geist könnte da oben spuken. Weil Gladys der Countess nur ein einziges Mal begegnet war, hatte er sich bereits damit abgefunden, dass auch ihm keine zweite Vision vergönnt war. Was er in jener Nacht erblickt hatte, konnte er sich nach wie vor nicht erklären. Was es auch gewesen war - es existierte nicht mehr.
Den ganzen Nachmittag ärgerte ihn die Ratte. In der Abenddämmerung, während es immer noch schneite, holte er schließlich die Leiter und stieg nach oben. Falls es eine Ratte war, durfte sie die Stromleitungen nicht durchnagen. Womöglich würde sie in dem alten Gemäuer eine verheerende Feuersbrunst verursachen. Er hatte Gladys versprochen, auf solche Gefahren zu achten.
Aber als er die Falltür zum Dachboden öffnete und hindurchkletterte, herrschte tiefe Stille. Alles in bester Ordnung. Und doch - er hatte sich das Geräusch nicht eingebildet. Hoffentlich war die Ratte inzwischen durch eine Mauerritze ins Freie gekrochen. Im
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