Die Erscheinung
nicht um Gnade flehen. Nur um Wills Leben würde sie bitten.
Als der Krieger zu sprechen begann, jagte seine tiefe, von Zorn erfüllte Stimme einen Schauer über ihren Rücken. »Ich sagte doch, Sie gehören nicht hierher. Offenbar haben Sie sich verirrt. In diesen Wäldern sind Sie nicht sicher.«
»Das weiß ich«, würgte sie hervor. Ihr Mund war staubtrocken. Aber sie saß hoch aufgerichtet im Sattel, und sie wich seinem Blick nicht aus. Nun entdeckte er den vor Angst schlotternden Jungen an ihrer Seite, doch er beachtete ihn nicht. »Verzeihen Sie, dass ich in dieses Land gereist bin«, bat sie tonlos. »Es ist Ihres, nicht meines, und ich wollte es nur sehen.« Selbstverständlich erkannte sie, dass ihre Erklärungen ihn nicht beeindruckten. Und so tat sie ihr Bestes, um wenigstens Will zu retten. »Lassen Sie den Jungen in Ruhe. Er ist noch so jung …«
»Und Sie? Wollen Sie sich für ihn opfern?« Wieder einmal bemerkte sie, wie kultiviert sein Englisch klang. Offensichtlich hatte er eine Zeit lang bei den Weißen gelebt und einiges gelernt. Aber seine markanten Gesichtszüge, das lange dunkle Haar, die Kleidung und die wilde Ausstrahlung bekundeten sein stolzes indianisches Erbe. »Sollte ich nicht
Sie
vor meinen Männern retten und ihn töten, Madam?«
»Nur durch meine Schuld sind wir hier …«, begann sie.
Langsam lenkte er sein Pferd rückwärts. Was hatte er jetzt vor? Zumindest konnte sie etwas freier atmen, seit er ihr nicht mehr so nahe war. »Der Colonel macht sich große Sorgen um Sie«, fuhr er ärgerlich fort. »Vor kurzem kamen Mohawk in diese Gegend. Mit Ihrer Dummheit könnten Sie einen Krieg auslösen, Madam. Offensichtlich wissen Sie nicht, was Sie tun. Die Indianer brauchen Frieden, keine Schwierigkeiten, die von Närrinnen heraufbeschworen werden. Hier gibt es schon genug törichte Menschen.« Wortlos nickte sie, zerknirscht und verständnisvoll. Dann rief er seinen Männern einen Befehl in ihrer Sprache zu. Die Indianer schauten interessiert zu ihr herüber. »Nun werden wir Sie beide zur Garnison führen«, verkündete er, wieder zu Sarah und Will gewandt. »Allzu weit ist es nicht mehr.«
An der Spitze seines Trupps ritt er voraus. Nur ein einziger Indianer bildete die Nachhut, damit die beiden Weißen nicht den Anschluss verloren und sich womöglich noch einmal verirrten.
»Alles ist gut«, versicherte sie dem Jungen. Seine Tränen, die ihm unendlich peinlich waren, versiegten langsam. »Ich glaube, sie werden uns nichts zu Leide tun.« Wortlos nickte er, voller Dankbarkeit, weil sie ihn zu retten versucht hatte, und zugleich beschämt. Ohne Zögern hätte sie ihr Leben für seines hingegeben. Welche andere Frau würde so etwas für ihn tun? Überhaupt - welch anderer Mensch?
Eine knappe Stunde später verließen sie die Wälder, und Deerfield kam in Sicht. Die Indianer zügelten ihre Pferde. Nach einer kurzen Beratung beschlossen sie, Sarah und den jungen Soldaten in die Garnison zu begleiten. Nun hatten sie ohnehin schon einige Stunden verloren, und es erschien ihnen einfacher, die Nacht hier zu verbringen und am nächsten Morgen weiterzureiten. Erleichtert grinste Will den Wachtposten an, der ihnen das Tor öffnete, aber Sarah fühlte sich zu erschöpft, um auch nur zu lächeln.
Irgendwo erklang ein Horn, und der Colonel stürzte aus seinem Quartier. Bei Sarahs Anblick seufzte er tief auf. »Wir haben zwei Suchtrupps losgeschickt«, erklärte er und warf einen kurzen Blick auf den jungen Scout. »Da Sie so lange unterwegs waren, dachten wir, Sie hätten einen Unfall erlitten.« Nun wandte er sich zu den Indianern, die inzwischen abgestiegen waren. Mit großen Schritten kam der Anführer zu ihnen herüber. Sarah wagte nicht, aus dem Sattel zu gleiten, aus Angst, ihre Beine würden sie nicht tragen. Doch der Colonel half ihr umsichtig vom Pferd, und sie hoffte, der stolze Krieger würde ihre Schwäche nicht bemerken. »Wo haben Sie die Dame gefunden?«, erkundigte sich der Colonel. Die beiden Männer schienen einander gut zu kennen und zu respektieren.
»Eine knappe Reitstunde von hier entfernt, im Wald verirrt«, antwortete der Indianer und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Offensichtlich sind Sie eine sehr tapfere Frau, Madam.« Zum ersten Mal zollte er ihr eine gewisse Anerkennung. Wieder zu Colonel Stockbridge gewandt, fügte er hinzu: »Sie dachte, wir würden sie töten, und versuchte sich zu opfern, um den Jungen zu retten.« Noch nie war er einer Frau begegnet, die
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