Die Erscheinung
zurückgekehrt waren, machten wir uns große Sorgen.«
»Tut mir Leid, Sir«, beteuerte sie zerknirscht. Aber mit dem französischen Comte, der sich als indianischer Krieger verkleidete, hatte sie noch immer nicht Frieden geschlossen. Welch eine Frechheit, ihr zu verheimlichen, wer er war … Letzte Nacht und an diesem Abend hatte er sie zu Tode erschreckt, mit voller Absicht.
»Fahren Sie nach Boston zurück, Mrs. Ferguson«, empfahl er ihr in kühlem Ton. Aber irgendetwas in seinen Augen verriet ihr, dass sie ihn beeindruckt hatte.
»Ich werde tun, was mir beliebt, Sir«, fauchte sie. »Besten Dank für Ihre Begleitung.« Anmutig knickste sie, als stünden sie sich in einem Londoner Ballsaal gegenüber. Dann schüttelte sie die Hand des Colonels, entschuldigte sich erneut für die Unannehmlichkeiten, die sie ihm bereitet hatte, und eilte zu Rebeccas Hütte, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Sobald sie den dunklen Raum betreten hatte, trugen ihre Beine sie nicht länger, langsam sank sie zu Boden und schluchzte vor Erleichterung und Kummer.
François de Pellerin schaute ihr nach, und der Colonel musterte ihn forschend. Es fiel ihm schwer, die Gedanken dieses Mannes zu lesen. Da der Comte mehrere Jahre bei Red Jacketts Stamm verbracht hatte, beherrschte er die Kunst der Irokesen, stets eine ausdruckslose Miene zu zeigen. Erst nach dem Tod seiner indianischen Frau war er wieder aufgetaucht. Er sprach niemals über die Tragödie. Aber alle Bewohner dieser Gegend wussten Bescheid.
»Was für eine bemerkenswerte Frau …«, seufzte der Colonel, noch völlig verblüfft über den Brief, den er an diesem Morgen von seiner Gemahlin erhalten hatte. »Sie gibt sich als Witwe aus - aber Amelia sprach neulich mit einer Engländerin, die soeben in Boston eingetroffen war und eine erstaunliche Geschichte erzählte. Offenbar ist Mrs. Ferguson vor ihrem Mann geflohen, dem Earl of Balfour, der noch zu leben scheint. Also darf sie sich Countess nennen. Seltsam … Eine englische Countess begegnet in der Wildnis einem französischen Comte. Nun, vielleicht wird sich demnächst die halbe europäische Aristokratie hier versammeln.« Außenseiter, Flüchtlinge und verrückte Abenteurer …
»Wohl kaum, Colonel.« François lächelte melancholisch und erinnerte sich an seinen Vetter, an die Männer, die gemeinsam mit ihm gekämpft hatten. Und jetzt diese junge Frau - bereit, für das Leben eines Fremden ihr eigenes hinzugeben, so tapfer, so kühn …»Nur die Besten und Tüchtigsten.« Er wünschte dem Kommandanten eine gute Nacht und kehrte zu seiner Truppe zurück. Wie üblich schliefen die Indianer im Freien, vom Pfahlzaun der Garnison geschützt. Wortlos gesellte er sich zu ihnen.
Inzwischen war Sarah zu Bett gegangen. Unentwegt dachte sie an den Mann, den sie für ihren Mörder gehalten hatte, erinnerte sich an die Glut seiner dunklen Augen, die kraftvolle Hand am Zügel seines Pferdes, die Waffen, die im Mondlicht geschimmert hatten. Würden sich ihre Wege noch einmal kreuzen? Hoffentlich nicht, dachte sie, schloss die Augen und versuchte erfolglos, sein Bild aus ihrer Fantasie zu verdrängen.
15
Den ganzen Tag, von morgens bis Mitternacht, hatte Charlie in Sarahs Tagebuch gelesen. Nun legte er es verträumt beiseite. Vor seinem geistigen Auge sah er jene Szene im dunklen Wald, wo sie François und seinen Indianern begegnet war - wo sie noch nicht einmal geahnt hatte, dass dieser Mann ihr Schicksal sein würde.
Charlie konnte sich nicht vorstellen, jemals eine so tapfere, bemerkenswerte Frau kennen zu lernen. Bei diesem Gedanken fühlte er sich einsamer denn je. Nun hatte er Carole schon lange nicht mehr angerufen. Bedrückt erinnerte er sich an das unglückselige Telefonat am Weihnachtstag. Damals hatte sie zusammen mit Simon in dessen Haus eine Party gegeben … Um sich von seinem Kummer abzulenken, beschloss er, das Château zu verlassen und frische Luft zu schnappen. Am klaren Winterhimmel funkelten zahllose Sterne. Dieser Anblick stimmte ihn noch wehmütiger. In seinem Leben gab es niemanden, mit dem er diese Schönheit teilen konnte. Nach ein paar Minuten kehrte er ins Haus zurück. Würde er jemals aufhören, seinem verlorenen Glück in England nachzutrauern? Könnte er irgendwann eine andere Frau lieben lernen? Undenkbar. Er hoffte nach wie vor, Carole würde Simon eines Tages satt haben. Und dann wollte Charlie sie mit offenen Armen aufnehmen.
Während er die Treppe zum Schlafzimmer hinaufstieg, kehrten seine
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