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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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Taxis hier haben keine großen Napoleonhüte auf. Sondern ein flaches, kleines Mützchen in die Stirn gezogen.
    Von wegen, sie liebt ihre beiden Söhne.
    London rast vorüber. Wir wiehern Passanten an. Ich muss daran denken, was ein Clint’s Cab mit leuchtendem Hut doch für ein beruhigender Anblick ist, und frage mich, was ich in London suche, wenn Onkel Thoby längst wieder zu Hause in St. John’s ist. Nur ist er leider nicht zu Hause in St. John’s.
    Ein paar Meter weiter, vor einer Kirche, hat es eine Kollision gegeben. Ein Mann in einem weißen Laster streitet mit einem Mann auf der Straße. Der Mann auf der Straße ist ganz in Schwarz. Er ist entweder Chauffeur oder trägt Trauer. Der Mann in Weiß ist eine Art Lieferant.
    Der Verkehr kommt zum Erliegen, bis die Sache geklärt ist. Oder auch nicht.
    Warum gibt der Laster nicht endlich nach, sagt der Taxifahrer und reibt sich verdrossen die Stirn.
    Komisch, ich weiß genau, dass sie sich streiten, obwohl ich kein Wort verstehe. Ihre Körperhaltung sagt alles. Das scheint banal – natürlich gibt es so etwas wie Körpersprache -, aber woran erkennt man schon von Weitem, dass sich zwei Leute streiten. Woran erkennt das Gehirn so etwas.
    Genau wie man schon von Weitem sehen kann, dass jemand eine Bedrohung darstellt. Man erkennt das daran, wie seine Silhouette sich gegen den Himmel abhebt.
    Man kann zwei Leuten sogar ansehen, wie lange sie sich kennen. Dazu braucht man nur zu beobachten, wie sie gemeinsam die Straße entlanggehen, und das Gehirn weiß sofort Bescheid. Plusminus ein Jahr.
    Das Gehirn registriert so viele Anhaltspunkte, ohne dass man etwas davon merkt.
    Der Mann in Schwarz verzieht sich. Beziehungsweise das Gesicht. Am besten gar nicht hinsehen. Er war auf einer Beerdigung. Und jetzt das. Der weiße Laster hat seinen Wagen gerammt. Und das ausgerechnet heute. Das Maß ist voll. Er setzt sich auf die Kirchentreppe. Der Lastwagenfahrer schreibt etwas auf einen Zettel. Er sträubt sich gegen sein Mitleid. Seine Hand fährt unwirsch über das Papier.
     
    Ich weiß noch, wie Onkel Thoby einmal von einem Ölzweig sprach. Den er England anbieten wollte. Und mein Dad sagte: Drauf geschissen. Aus seinen Worten sprach solcher Hass, dass Onkel Thoby sich erst mal setzen musste. Mein Dad ergriff normalerweise für niemanden Partei, es sei denn natürlich bei Wahlen. Aber diesmal machte er eine Ausnahme und schlug sich auf eine Seite. Nämlich unsere. Unsere Seite des Atlantiks gegen ihre. Und das nicht etwa sich selbst, sondern Onkel Thoby zuliebe. Ich hob den Blick vom Fußboden, wo ich mit Wedge spielte.
    Er hatte vergessen, dass ich da war.
    Onkel Thoby warf mir einen besorgten Blick zu.
    Mein Dad zuckte die Achseln, als ob er sagen wollte: Meinetwegen kann sie das ruhig hören.
    Was ist ein Ölzweig.
    Ein Zweig von einem Olivenbaum.
    Was ist eine Ilove.
    Olive.
    Olive you .
    Olive you too .
    Es gab bei uns zu Hause keine Regel, was den Gebrauch schmutziger Wörter anging, aber es gab die Regel, dass man mit schmutzigen Wörtern niemanden verletzen durfte. Das gehörte sich einfach nicht. Aber da er das schmutzige Wort stellvertretend für uns alle ausgesprochen hatte, brauchte mein Dad kein schlechtes Gewissen zu haben. Und wir brauchten uns keine Sorgen zu machen, weil mein Dad eine Waffe auf England gerichtet und laut und deutlich gesagt hatte: Noli me tangere .
    Ich nickte.
    Aber Onkel Thoby nickte nicht. Ich konnte mich des Verdachts nicht erwehren, dass er am liebsten ganze Olivenbäume nach England geschickt hätte.
    England war ein anderes Wort für Großmutter.
     
    Ich schlage meinen Kaffeefilter-Stadtplan auf und frage den Taxifahrer, ob er nicht einen kleinen Umweg machen könne.
    An der nächsten roten Ampel wirft er einen Blick auf den Plan. Das ist aber ein ziemlich großer Umweg.
    Ja, aber können wir vielleicht trotzdem vorbeifahren.
    Klar können wir. Er blinkt.
    Gut. Ich lehne mich zurück.
    Er sieht in den Rückspiegel. Sind Sie sicher, dass Sie da hinwollen, fragt er.
    Warum.
    Er zuckt die Achseln.
    Ich lege die Füße auf den Notsitz. Das gefällt mir an englischen Taxis: Man sitzt wie zu Hause im Wohnzimmer. Pardon, Salon.
    Eine halbe Stunde später biegen wir in eine von heruntergekommenen kleinen Läden gesäumte Straße. Die bis auf einen Autoersatzteilladen allesamt geschlossen sind. Das Taxi bremst.
    138 Welkin Way Road beherbergt eine Staubsaugerreparaturwerkstatt. Auf die Ziegelmauer links neben dem Schild hat jemand mit

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