Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
warm ums Herz. Komm, wir parken gleich hier, sage ich. Es ist nicht mehr weit.
Und so steigen wir aus und stapfen durch den Schnee. Bei dem Streifenwagen angekommen, frage ich die Polizisten, ob sie denn auch genug Kaffee hätten oder vielleicht irgendetwas bräuchten, ich stände jederzeit zu ihrer Verfügung.
Onkel Thoby sieht auf die Uhr.
Danke, junge Frau. Wir sind versorgt.
Ich danke Ihnen.
Wir gehen weiter zum Hotel. Die Straßen sind tief verschneit. Ich sage: Hast du den Monitor am Armaturenbrett gesehen. Die haben ein Videospiel gespielt.
Das war ein Stadtplan von St. John’s, sagt Onkel Thoby.
Nein. Oder doch.
Das Fairfont begrüßt seine Besucher mit Schildern, deren extrem kursive Beschriftung zu extrem kuriosen Verwechslungen führen kann. So gibt es auf dem Hotelgelände beispielweise eine Sauna oder Fauna und einen Frisiersalon, der sich entweder Haarfein oder Haarklein nennt. Alles ist verschnörkelt und golden.
Onkel Thoby und ich sitzen in der Lobby, pardon, dem Atrium. Es ist der reinste Dschungel. Es gibt mehrere Terrassen. Zwischen denen sich ein kleines Bächlein hindurchschlängelt. Von oben ergießt sich ein Wasserfall, der aussieht wie Haare in einem Shampoo-Werbespot, in ein Becken mit Unterwasserleuchten. Auf einem flachen Podest steht ein Flügel.
Überragt wird das Ganze von einem kastanienbraun geschmückten, gut sechs Meter hohen Weihnachtsbaum.
Ich klopfe den Schnee von meinen Stiefeln. Der Baum kann unmöglich echt sein, sage ich.
Vielleicht ist er ja nicht aus Kanada.
Wer macht denn so was. Bäume importieren.
Onkel Thoby zuckt die Achseln und putzt sich die Nase. Er trägt einen schwarzen Anzug und ist unrasiert. Er sieht aus wie ein Chauffeur. Oder wie jemand, der gerade seinen Bruder verloren hat. Sein Mantel liegt über der Sessellehne. Die orangenen Handschuhe ragen wie Hahnenkämme aus den Taschen.
Er verströmt die Aura eines Menschen, der eben erst zur Tür hereingekommen ist. Worin besteht diese Aura. Sagen wir, Sie ständen einer Reihe von Leuten gegenüber, und einer von ihnen wäre gerade erst zur Tür hereingekommen, während die anderen schon seit einer Stunde hier herumstehen. Würden Sie denjenigen erkennen, der gerade erst gekommen ist. Ja. Aber woran. An seinen rosigen Wangen. Den feuchten Augen. Den zerzausten Haaren. Oder ist da noch etwas anderes. Und wie lange dauert es, bis dieses andere wieder verschwindet. Wann wird Onkel Thoby aussehen, als hätte er sich akklimatisiert. Ich berühre meine Wange. Sie ist noch kalt. Wann werden wir aussehen, als würden wir ins Fairfont passen.
Ein Uhr, hat Toff gesagt. Jetzt ist es drei Minuten vor. Mir graut vor ihm. Was auch eine Art Angst ist. Was wiederum ein Zeichen ist für mangelnde Neugier beziehungsweise mangelnden Schutz.
Aus welcher Richtung er wohl kommt. Der Baum. Er kommt bestimmt hinter dem geschmackvollen Baum hervor. Es gibt einen Punkt, an dem das Geschmackvolle (sprich Kastanienbraun) geschmacklos wird. Wo ist dieser Punkt. Der Baum hat ihn eindeutig überschritten.
Ich lasse den Blick über den Dschungel schweifen und halte nach jemand Interessantem Ausschau. Nichts. Nichts. Nichts. Ich sehe zum Wasserfall hinauf. He, habe ich da etwa einen Goldfisch den Wasserfall hinunterspringen sehen!
Ich springe auf. Ich muss mal eben dringend telefonieren.
Nicht weglaufen, Oddly.
Halt mir den Platz frei.
Eine Terrasse weiter oben finde ich ein Münztelefon. Ich durchwühle meine Taschen. Finde aber nur den Toonie vom Kurzzeitparklatz. Ob das wohl reicht. Nein. Aber da ist ja der Brunnen. Mit lauter Münzen drin. Tausenden von Münzen. Und nicht bloß Pennies. Vierteldollars. Und sogar eine Eindollarmünze. Die Gäste im Fairfont haben teure Wünsche. Ich kremple den Ärmel hoch und greife hinein. Das Wasser ist warm. Das kommt wahrscheinlich von den Unterwasserleuchten. Winnie fände diesen Brunnen bestimmt super. Halt durch, Win. Keine Panik.
Ich sehe gar keine Goldfische. Habe ich mir den Goldfisch etwa nur eingebildet. Ich schnappe mir die Dollarmünze. Jemand mit dem verschnörkelten Fairfont-Schriftzug auf der Brust kommt vorbei und schimpft.
Das ist ein Notfall, sage ich.
Ich gehe zum Telefon zurück, werfe das ganze Geld auf einmal ein und wähle Lindas Nummer. Es klingelt zweimal. Dreimal.
Rechts von mir ist eine Bar namens Sans Serif. Darin sitzen zwei Air-Canada-Piloten in Uniform an einem niedrigen Tisch und trinken aus hohen Gläsern.
Das vierte Klingeln.
Sie lachen.
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