Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Der eine gibt dem anderen einen Klaps aufs Schulterstück.
Lindas Anrufbeantworter springt an.
Hallo Linda. Du bist wahrscheinlich bei der Arbeit. Mir ist da gerade was eingefallen. Eiweiß. Winnifred braucht Fischeiweiß. Gelegentlich. Seetang. Hatte ich dir die Proteinmischung gegeben. Ja, doch, habe ich. Ich wollte dich nur daran erinnern.
Eine Computerstimme fährt dazwischen und sagt: Bitte zwei Dollar und fünfundsiebzig Cent einwerfen.
Was.
Die verbleibende Gesprächsdauer beträgt zehn Sekunden.
Zehn Sekunden. Der Schildkröt lebt nicht vom Salat allein!, platze ich heraus. Aber keinen Tunfisch. See-Aus.
Ich halte mir den Hörer noch eine Weile ans Ohr. Als einer der Piloten in meine Richtung schaut, winke ich ihm zu, aber er sieht mich nicht.
Unten sitzt Toff wölfisch auf meinem Platz. Sein Bart ist kürzer und spitzer, wie ein Pik. Und er trägt einen lila Schal. Pardon, ein lila Halstuch. Irgendeinen Seidenfetzen, den er sich in den Hemdkragen gestopft hat. Onkel Thoby nickt. Neben meinem Sessel steht ein Aktenkoffer.
Mein Dad nannte Leute mit einem Hang zu extravaganter Garderobe Weihnachten auf Stelzen. Und es tut mir leid, aber ein lila Halstuch ist extravagant. Es ist Weihnachten auf Stelzen. Und damit mindestens genauso geschmacklos wie der kastanienbraune Weihnachtsbaum. Zumal sein »bester Kumpel« gerade gestorben ist.
Ich gehe langsam die Treppe hinunter.
Toff breitet die Arme aus. Ach, sagt er. Du liebe Güte. Er umarmt mich. Tritt mir auf den Fuß. Es tut mir sehr leid.
Schon gut. Stiefel mit Stahlkappen.
Das mit deinem Vater, meine ich. Er starrt mich an und sagt: Du bist erwachsen geworden.
Ja und nein.
Onkel Thoby tut so, als habe er einen steifen Nacken und lässt den Kopf kreisen, damit er uns nicht ansehen muss. Es ist aber auch wirklich furchtbar peinlich. Toffs Hände liegen immer noch auf meinen Schultern. Als wollte er sich mein Gesicht fotografisch einprägen. Also lege auch ich ihm die Hände auf die Schultern. Pitsch, patsch. Sie sind hoch und knochig. Toffs Schultern.
Seine hellen Augen blinzeln im Pitsch-patsch-Takt. Ich finde das irgendwie lustig. Und beunruhigend, denn der Wolf hat Tränen in den Augen. Muss man ihn nun fürchten oder bemitleiden. Ich weiß es nicht. Hör auf, ihn anzustarren. Zieh dich zurück.
In ein Restaurant wie dieses nimmt man keinen Aktenkoffer mit. Es ist champagnerfarben, weihnachtlich und rappelvoll. Eine Harfenistin spielt. Wir traben im Gänsemarsch, wie Kettensträflinge, zu unserem Tisch. Die Harfenistin sitzt in der Ecke hinter Toff. Die Saiten verschwimmen förmlich unter ihren Fingern. Faszinierend.
Ob es Toff nichts ausmache, dass ihm eine Harpyie im Nacken sitzt.
Du meinst eine Harfenistin.
Hab ich doch gesagt.
Die Harfenistin spielt »What Child Is This«, das zu jeder anderen Jahreszeit schlicht »Greensleeves« hieße.
Onkel Thoby fragt Toff nach seinem Zimmer – bist du zufrieden -, und Toff sagt Ja, es erinnere ihn an eine Schiffskabine. Es habe ein Bullauge und einen Balkon, und über dem Bett hänge ein Bild von Männern in einem kenternden Boot.
Wie schön, sagt Onkel Thoby und studiert die Weinkarte.
Ich nehme mein Brotmesser, dessen Griff ein viktorianisches Figürchen mit Schlittschuhen darstellt. Wenn man damit an der Tischkante entlanggleitet, sieht es aus, als ob es auf einem zugefrorenen Teich Schlittschuh laufen würde.
Die Bedienung kommt an unseren Tisch und lächelt mich an. Da sind Sie nicht die Erste, sagt sie. Das machen viele.
Ich lege das Messer wieder hin.
Was kann ich Ihnen zu trinken bringen.
Onkel Thoby bestellt eine Flasche Hauswein. Toff zupft leicht verstört an seinem Halstuch herum, sagt dann aber doch: Okay.
Für mich bitte Kaffee.
Ich habe den Moment verpasst, als Onkel Thobys Gesicht sich akklimatisiert hat. Da war ich wahrscheinlich telefonieren. Es war wahrscheinlich der Moment, als er Toff erblickte. Sein Gesicht wurde ganz blass und vergaß darüber, wie kalt es draußen war. Ich lege die Hand an meine Wange. Zimmerwarm.
Wie spitz sein Bart ist.
Wenn er so dasitzt, auf Brusthöhe abgeschnitten, sieht Toff aus wie ein Pik-Bube. Besonders wenn er den Kopf ins Profil wendet, damit er die Harpyie besser hören kann. Die jetzt »Away in a Manger« spielt, die Version, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann. Ich wollte, sie würde aufhören, so zu tun, als wären wir im Himmel.
Toff möchte mit mir in Erinnerungen schwelgen. Und da unsere gemeinsamen Erinnerungen nicht
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