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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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ihn an. Worauf Onkel Thoby zusammenzuckte und Toff vor dem Briefkasten zurückwich, als ob eine Bombe darin läge. Aber bis auf die Wahlkampfbroschüre hatten wir keine Post.
    Ich klammerte mich während der gesamten Beerdigung an die Broschüre.
    Mein Dad hätte Clint gewählt, und sollte Clint der Sonnenuntergang von Ottawa verwehrt bleiben, weil ihm eine Stimme fehlt, liegt das daran, dass mein Dad ihn nicht mehr wählen kann.
     
    Das Loch in der Erde am besten einfach ignorieren.
    Ich ignorierte das Loch in der Erde. Und schaute mir stattdessen das Gefängnis an, das an den Friedhof grenzt. Wie finde ich denn das, dass die Füße von meinem Dad bis in alle Ewigkeit auf ein Gefängnis zeigen. Hm.
    Ich hatte immer angenommen, dieser Friedhof sei nur für Gefangene. Aber nein, versicherte mir Onkel Thoby, dieser Friedhof steht allen offen und liegt nur zufällig gleich neben dem Gefängnis. Ach. Und wenn die Gefangenen aus ihren Fenstern, pardon, Schlitzen gucken, sehen sie ein Stück Beerdigung. Oder ein Stück vom Veni-Vidi Lake. (Friedhof, Gefängnis und See bilden ein Dreieck.) Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich die Regatta durch ein Fenster anschauen, das so schmal ist, dass Sie nicht einmal ein ganzes Boot sehen können. Sondern immer nur eine Scheibe Boot. Ein veni-vidiwinziges Stückchen Boot.
    Die armen Gefangenen. Die Rückseite des Gefängnisses ist babyblau. Ob sie wissen, dass ihr Gefängnis hinten babyblau ist.
    Die Sonne ging unter, und mir lief die Nase. Da ich kein Taschentuch zur Hand hatte, musste ich mir mit der Wahlkampfbroschüre behelfen. Woraufhin mir gleich zehn Trauergäste ein Papiertaschentuch anboten. Danke, danke. Sehr freundlich.
    Sie denken, ich weine.
    Kann ich meinen Dad wirklich so hier liegen lassen, wo seine Füße doch bis in alle Ewigkeit auf das Gefängnis zeigen, und mit den anderen zum Leichenschmus oder wie das heißt nach Hause gehen.
    Onkel Thobys orangener Handschuh legt sich auf meine Schulter.
    Konzertrier dich auf die babyblaue Rückseite des Gefängnisses und die Pfeilschießschartenfenster. Was würde sonst auch durch diese Fenster passen außer einem Pfeil. Na, ein Zettel. Eine Botschaft. Und kaum habe ich Botschaft gedacht, sehe und bekomme ich auch schon eine. Ich sehe einen Zettel aus einem Fenster fallen. Der Wind erfasst ihn und trägt ihn in meine Richtung. Ich recke die Arme. Ein Zettel, ein Zettel. Doch ach, er verfängt sich im Stacheldraht auf der Dornenkrone der Gefängnismauer.
    Ich laufe natürlich auf die Gefängnismauer zu. Auf die Gefängnismauer und den Zettel, der eigentlich gar kein Zettel ist. Und an den ich, selbst wenn es ein Zettel wäre, niemals herankommen würde, weil die Mauer fünf Mann hoch ist. Ich laufe zur Mauer, und mein Schatten ist so lang, dass er bis zum Zettel reicht, ich selber bin es leider nicht. Trotzdem hüpfe ich wie eine Ballerina in die Höhe. Ein Zettel, ein Zettel.
    Da trifft mich die Erkenntnis. Es ist die Verpackung eines Piety-Törtchens. Früher mochte ich Piety-Törtchen für mein Leben gern. Zehn Jahre lang habe ich in der GOLEM-Cafeteria täglich eins gegessen.
    Eine Botschaft ist mir nicht vergönnt.
     
    I ch stehe am Fenster, einer Insel ganz für mich allein, als ein Auto, das mir irgendwie bekannt vorkommt, in Jim Ryans Einfahrt hält. Ein klobiger kleiner Lada (der Motor läuft noch!), und wer springt heraus. Verlaine. Wahnsinn. Sie parkt ohne Erlaubnis auf Jim Ryans Hörnchen. Und hat keinen Mantel an.
    Sie trabt gemächlich über den Rasen.
    Ich laufe zur Tür, um sie zu begrüßen. Sie drückt mich. Mit bloßen Armen. Haare zerzaust und auf der Hut. Audray. Sie küsst mich à la Suisse . Rechte Wange, linke Wange, rechte Wange.
    Ich glaube, die Schweizer küssen sich nur deshalb so, weil sie den Blickkontakt mit dem Neuankömmling möglichst lange hinauszögern möchten.
    Sie sagt, sie habe es nicht zur Beerdigung geschafft, weil es im Obacht-Gebäude zu einer Taubenkrise gekommen sei, die ihre unbedingte Aufmerksamkeit erforderte.
    Sie schaut mich immer noch nicht an.
    Taubenkrise.
    Sie trägt ein weißes Polohemd mit einem schwarzen Pferd auf der Brust. Auf fast allen ihren Hemden sind Pferde. Sie kauft sie extra wegen der Pferde. Aber wenn man sie fragt, wer Ralph Lauren ist, hat sie keine Ahnung.
    Du siehst müde aus, sagt sie.
    Jetzt schaut sie mich an. Na also, geht doch.
    Im Wohnzimmer drängeln wir uns zu Wedges Terrarium vor.
    Ah, da ist es ja, sagt sie. Mein kleines Sandwich. Mein

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