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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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du beide Wörter groß .
    Regel Nummer Eins der Großschreibung, sagte ich. Wenn etwas eine große Rolle spielt, schreibe es in Großbuchstaben. Vielleicht kannst du es irgendwann noch mal als Akronym gebrauchen.
    Toff starrte mich verständnislos an. Dann fuhr er fort: Das liest sich, als wäre er – als wäre Walter weiter nichts als ein Gehirn auf dem Gehsteig.
    Über dieses Bild musste ich lachen. Ich knuffte Onkel Thoby in die Seite. Aber er lachte nicht mit. Warum lachst du nicht mit, fragte ich.
     
    Ich habe einen Trauerflor um Wedges Rad gebunden, damit er heute nicht laufen kann. Er sieht ganz elend aus, wie er so mit dem Rücken zum Zimmer in einer Ecke seines Terrariums sitzt. Es ist komisch, aber er scheint die Leute magisch anzuziehen. Als ob sie Wedge die letzte Ehre erweisen müssten und nicht meinem Dad.
    Das Haus ächzt unter dem Gewicht von Leuten, die ich nicht kenne. Kollegen, Studenten. Selbstverständlich sind auch einige darunter, die ich kenne. Alle stehen in Grüppchen beieinander. Clint hat eine eigene Insel von Leuten. Ebenso Byrne Doyle. Doch sie werden zusammen nicht kommen. Außer in unserem Vorgarten, natürlich, wo ein Clint-Plakat und ein Byrne-Doyle-Plakat Schulter an Schulter stehen. Onkel Thoby hat sie aufgestellt.
    Irgendwie habe ich Onkel Thoby aus den Augen verloren. In unserem eigenen Haus. Und wo steckt eigentlich Toff.
    Es wird viel über die Wahl geredet. In der Schlange vor Wedges Terrarium sagt jemand: Der arme Byrne Doyle. Wenn man den Umfragen glauben darf, werden die Wähler ihn am langen Arm verhungern lassen.
    Auf Umfragen ist kein Verlass.
    Ja, vor dem Kaminsims hat sich eine regelrechte Schlange gebildet.
    Jemand berührt mich am Arm.
    Patience steht nicht in der Schlange. Sie hat für Mäuse generell nicht sehr viel übrig. Obwohl sie selbst ein wenig wie eine Maus aussieht. Sie ist klein, mit weißen Haaren und runden, schwarzen Augen. Sie drückt mir eine kleine Schachtel in die Hand.
    Was ist das.
    Ich habe es selbstgemacht.
    In der Schachtel liegt ein Stück Seife, in das sie die Worte WALTER FLOWERS IST TOT graviert hat.
    Oh.
    Das ist eine Trauerseife, sagt sie. Du wäschst dich damit, und nach einer Weile wird mit den Worten auch deine Trauer verschwinden.
    Ich atme langsam aus. Das ist doch Blödsinn, Patience.
    Sie tätschelt mir den Arm. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
    Patience ist die Sekretärin von meinem Dad, und das schon, seit ich denken kann. Sie ist mit ihm von Fachbereich zu Fachbereich gezogen, von der Psychologie zur Biologie, von der Biologie zur Neurowissenschaft, von der Neurowissenschaft zu Biogerontologie. Ich glaube, das ist die richtige Reihenfolge. Die Biogerontologie kommt auf jeden Fall zum Schluss. Der gesamte Fachbereich bestand aus einer einzigen Person. Nämlich meinem Dad. Der die Universitätsleitung allen Ernstes davon überzeugen konnte, dass er eine eigene Vollzeitsekretärin brauchte.
    Manchmal, wenn mein Dad unterrichtete, durfte ich die Füße auf seinen Schreibtisch legen und Sprechstunde halten. Es kam nie jemand. Außer Patience. Sie setzte sich auf den Studentenstuhl und fragte mich, weshalb sie bei der letzten Klausur so schlecht abgeschnitten habe.
    Tja, Patience. Sie sind eben totipotent.
    Was soll das heißen.
    Dass im Prinzip alles Mögliche aus Ihnen werden kann, nur keine Meerjungfrau.
    Aha.
    Geben Sie sich beim nächsten Mal etwas mehr Mühe.
    Dafür liebte ich sie. Und dafür, dass sie meinen Dad mit anderen Augen sah. Dass er für sie etwas Jungenhaftes hatte. Der gute Walter, albern, aber liebenswert. Der nur Unfug trieb in seinem komischen Labor. Mit seinen langlebigen Mäusen. Letzten Endes konnte man gar nicht anders, als sich ein klein bisschen in ihn zu verlieben. Genau das tat Patience denn auch. Und sie zeigte ihm diese Liebe, indem sie ihn nicht allzu ernst nahm und ihn wie ein Rottweiler bewachte. Sie schlug sich stets auf seine Seite und ergriff für ihn Partei. Dass es weder Seiten noch Parteien gab, störte sie nicht im Geringsten. Sie unterstützte ihn in seinem Kampf gegen die Psychologen (die keine Seele hatten), gegen die Biologen (die kein Rückgrat hatten), gegen die Neurowissenschaftler (die kein Herz hatten). Mein Dad tue recht daran, ihnen den Rücken zu kehren. Er tue recht daran, sich sein eigenes kleines Nest zu bauen.
    Mein eigenes Nest, sagte mein Dad. Soso.
    Wenn du es baust, werden sie kommen, sagte sie.
    Wer, fragte mein Dad, der die Anspielung nicht verstanden hatte.

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