Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Umschlagfotos:
1. Jim Ryan rollt einen Schlauch auf.
2. Jim Ryan flüchtet vor Wespen.
3. Jim Ryan schlägt ein Rad in seiner Einfahrt. (Ach, würde Jim Ryan doch bloß ein Rad schlagen in seiner Einfahrt!)
Wenn ich nicht gerade an der Biografie schreibe, reite ich. Wenn ich Rambo reite, müssen die Steigbügelriemen doppelt und dreifach gelegt werden, weil meine Beine viel zu kurz sind. Halt dich an der Mähne fest, sagt Verlaine, nicht an den Zügeln. In seiner Mähne habe Rambo kein Gefühl, versichert sie.
Kein Gefühl. Ich zupfe an seiner Mähne und beuge mich so weit vor, dass ich ihm ins Gesicht sehen kann. Keine Reaktion. Ich ziehe ein bisschen fester. Er stöhnt. Und marschiert schnurstracks Richtung Scheune.
Der Schritt ist ein viertaktiger Gang, sagt Verlaine. Der Trab ist zweitaktig. Der Galopp dreitaktig. Normalerweise berührt mindestens ein Huf den Boden.
Ah, gut, sage ich. Gut. Dann denke ich darüber nach. Und sehe zu Verlaine hinunter.
Ja, es gibt Augenblicke, Sekundenbruchteile, wenn keiner der vier Hufe den Boden berührt. Zum Beispiel beim Galopp.
Heiliger Lada, sage ich.
Der Stall liegt in Flughafennähe, und manchmal fliegen die Flugzeuge so tief, dass ihr Fahrwerk meinen Reithelm streift. Na ja, fast jedenfalls. Wenn die Flugzeuge tief fliegen, ziehe ich den Kopf ein, und Rambo wirbelt herum, und Verlaine muss ihn festhalten. Alle vier Hufe verlassen den Boden.
Hat er Angst vor dem Lärm. Oder dass das Flugzeug abstürzt. Oder was.
Verlaine sagt: Er hat eigentlich gar keine Angst. Er tut nur so.
Tut nur so!
Flugzeuge, sagt sie, sind für ihn ein alter Hut.
Allmählich vergesse ich die alte Verlaine. Sie ist kein Kellertroll. Sie begrüßt mich zwar noch immer à la Suisse , aber ihre Arme kommen mir nicht mehr so gefährlich vor. Ich zerre Wedges Terrarium unter meinem Bett hervor. Sie lacht. Dachtest du, ich wüsste nicht, dass die Maus irgendwo im Haus ist.
Nach jeder Mahlzeit essen wir Eiscremesandwiches, sogar nach dem Frühstück.
Sie holt Wedge mit gekonntem Griff aus seinem Terrarium. Hallo, mein kleines Sandwich. Sie krault ihn hinter dem Ohr mit der 18 drauf, und Wedge wird ganz verträumt und schließt die Augen.
Ich sehe ihr zu. Liebst du Rambo.
Natürlich.
Und die Mäuse im Labor von meinem Dad auch.
Non .
Warum nicht.
Weil ich es nicht möchte.
Aber liebst du sie insgeheim vielleicht doch und tust nur so, als ob nicht.
Was.
Liebst du sie insgeheim vielleicht doch.
Non .
Insgeheim.
Non .
Wedges Barthaare zucken. Er streckt sich.
Also, ich liebe alle Tiere, sage ich und nehme ihn. Er setzt sich quiekend zur Wehr.
Auch Fliegen, sagt Verlaine.
Ich will eben Ja sagen, als mir einfällt, dass ich heute Morgen erst eine erschlagen habe.
Man liebt, was zu einem gehört.
Mein Dad ruft an. Ich erzähle ihm von Rambo. Ich gerate ins Schwärmen.
Er sagt: Höre ich da etwa Wedge in seiner Kugel.
Ja, ja! Wedge rollt gerade über die Küchenf liesen.
Dann hat Verlaine ihn also noch nicht verschlungen.
Nein, sage ich prustend. Wie kommst du denn darauf.
Ich reiche Verlaine den Hörer und folge Wedge ins Wohnzimmer.
In Ordnung. Ja. Gut. Non . Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich das Kind ohne Helm auf ein Pferd setzen würde. Sie würde ihn am liebsten gar nicht mehr abnehmen. Sie ist ein Naturtalent.
Mir wird ganz heiß vor lauter Glück. Hast du das gehört, Wedge. Ein Naturtalent. Moi .
Wedge streckt die Händchen in die Luft und kommt auf mich zugekullert.
Ich winkle die Arme an, als hielte ich Zügel in der Hand, und prüfe meinen Bizeps.
Drei Wochen ohne meinen Dad, und schon ist eine couragierte Reiterin aus mir geworden. Sagt Verlaine. Ich ducke mich nicht mehr, wenn die Flugzeuge tief fliegen. Ich gebe Rambo einen Klaps auf den Hals und sage ihm, er solle sich beruhigen. Im Leichttrab halte ich inzwischen mühelos den Takt. Wir machen einen Ausritt. Ich reite, und Verlaine geht nebenher. Die Pfade sind holprig, und Verlaine klagt über die Steine, die sich vermehren wie die Karnickel. Wir überqueren einen Fluss. Verlaine springt von Stein zu Stein. Manchmal sind Steine anscheinend doch zu etwas nütze. Rambo säuft ausgiebig, und ich beuge mich vor und schlinge ihm die Arme um den Hals. Ich spüre, wie die Schlucke durch seine Kehle wandern.
Der Pfad endet an einem Maschendrahtzaun, der mir irgendwie bekannt vorkommt. Auf der anderen Seite ist ein Feld, dann Asphalt.
Das ist die Rollbahn, sagt Verlaine. Und da ist der
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