Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Armen.
Ich springe in den Lada und schiebe den Schlüssel ins Zündschloss. Drehe den Schlüssel. Das Auto macht einen Satz. Alle vier Reifen verlassen den Boden. Was mir einen Höllenschreck einjagt. Heiliger Lada, beruhige dich. Ich drehe den Schlüssel ein paarmal hintereinander. Das Auto ruckelt zwar jedes Mal, bewegt sich aber keinen Zentimeter von der Stelle. Warum bewegen wir uns nicht.
Ich mache mich lang, bis meine Sohlen die Pedale berühren. Tret, tret, dreh, dreh.
Da sehe ich, wie Verlaine aus dem Obacht-Gebäude kommt. Mit verkniffener Miene. Oje.
Jetzt spring endlich an. Spring, spring, spring.
Sie hebt die Hand. Ich solle aufhören. Ich höre auf. Ich kurbele das Fenster herunter.
Was machst du denn da, verdammt noch mal.
Ich habe gerade das Flugzeug von meinem Dad gesehen.
Weißt du eigentlich, wie gefährlich …
Mir tun die Beine weh, sage ich. Ganz furchtbar weh sogar.
Sie reißt die Tür auf. Ich schiele unter meinem Schirm hervor – denn ja, ich trage meinen Kopfschutz aus schwarzem Samt. Mit Haarnetz. Ich habe mich richtig hübsch gemacht.
Wovon …
Vom Warten.
Raus.
Ich steige aus und renne um das Auto herum zur Beifahrertür.
Verlaine dreht den Schlüssel, und diesmal macht das Auto zwar keinen Satz, springt aber auch nicht an. Tja, sagt sie. Das hast du nun davon. Die Batterie ist leer.
Welche Batterie! Ich habe die Batterie nicht angerührt.
Sie lässt die Schultern hängen. Jetzt sitzen wir erst mal hier fest.
Das ist gemein. Ich fange an zu weinen. Aber ich habe doch das Flugzeug von meinem Dad gesehen.
Sie dreht sich zu mir. Was hast du denn auf einmal, Audray. Die ganzen vier Wochen gab es nicht das geringste Problem.
Wer’s glaubt, wird selig.
Sie nimmt ihren Daumen. Und wischt mir eine Träne von der Wange. Vom Warten tun dir die Beine weh, sagt sie.
Ich nicke.
Sie nickt.
Wir kommen zu spät zum Flugzeug von meinem Dad. Er steht schon draußen vor dem Gebäude, in einem blassgelben Hemd. Seine Haare sehen heller aus als sonst. Verlaine hält am Bordstein.
Ich springe aus dem Auto. Und werde von starken Armen hochgehoben.
Ist das Fahrwerk richtig ausgefahren, sage ich und vergrabe das Gesicht an seinem Hals.
Ja.
Er hält mich lange in den Armen. Verlaine schaltet die Warnblinkanlage des Lada ein. Mais c’est incroyable , höre ich sie sagen.
Danke für den Brief in meinem Gepäck.
M ein Dad hat sich verändert. Er spricht mit stärkerem Akzent. Aber ich habe mich schließlich auch verändert. Ich habe einen Helm. Und selbst wenn ich ihn nicht aufhabe, habe ich ihn im Geiste trotzdem auf, denn der Schirm und die Kinnriemen haben Bräunungsschatten an Stirn und Wangen hinterlassen.
Das Haarnetz nicht zu vergessen.
Mein Dad weiß nicht, was er von meinem neuen Haaraccessoire halten soll. Er sagt: Arbeitest du jetzt in der Lebensmittelbranche. Als Kuchenbäckerin bei Piety Pie. Oder was.
Wieso. Gefällt dir meine neue Frisur nicht, frage ich.
Doch, doch.
Ich frage ihn nach Onkel Thoby. Ist er sehr arm dran.
Was.
Ob er sehr arm dran ist.
Ich halte die Kühlschranktür auf und tue so, als ob ich den Käse suchen würde.
Blindes Huhn sucht Hörnchen, liest mein Dad langsam. Die Jim-Ryan-Story.
Ich spähe über die Türkante hinweg. Körnchen muss das heißen! Körnchen!
Witzbold.
Er telefoniert viel. Das ist neu. Mit Großmutter. Mit Onkel Thoby. Er setzt sich auf die Kellertreppe und telefoniert stundenlang. Manchmal lehnt er die Tür an, damit ich nicht hören kann, was er sagt.
Seine Telefonstimme ist weich und süßlich. Wenn ich diese Stimme höre, möchte ich ihm am liebsten einen Tritt verpassen. Manchmal stoße ich die Kellertür auf, und sie kracht ihm in den Rücken. Aha!, sage ich, als hätte ich ihn erwischt. Nur wobei.
Er sieht zu mir hoch. Ich muss jetzt Schluss machen, sagt er. Der Schelm mit dem Helm hört mit.
Shirley MacLaine liegt zwar wieder auf dem Tisch, ist aber unter aller Kanone. Sie ist ein Armleuchter, sage ich.
Armleuchter, sagt mein Dad und nickt.
Weißt du, was ein Armleuchter ist, frage ich.
Selbstverständlich.
Er sagt, er habe mir auch eine Biografie zu erzählen, nämlich die von Onkel Thoby, wolle aber warten, bis wir Zwischenleben ausgelesen hätten.
Wieso warten. Das ist doch doof. Du kannst Shirleys Biografie über Shirley doch auch nicht leiden. Und Onkel Thoby ist bestimmt kein Armleuchter.
Nein, sagt mein Dad. Ein Armleuchter ist er nicht.
Na also. Shirley kann meinetwegen das
Weitere Kostenlose Bücher