Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Fenster offen halten.
Wann bekomme ich eigentlich deine Jim-Ryan-Biografie zu lesen, fragt er.
Ich halte acht Finger hoch.
In acht Tagen.
Nein.
Acht Wochen.
Ich schüttele den Kopf. Meine Jim-Ryan-Biografie besteht aus nur acht Wörtern.
Titel inklusive.
Kein Kommentar.
Was mir an Biografien aufgefallen ist: Sie fangen immer mit jemandem an, über den normalerweise kein Mensch eine Biografie schreiben würde. Trotzdem hat sie natürlich jemand geschrieben, sonst würde man sie ja nicht lesen. Oder hören. Das Blatt wird sich also wenden. Außerdem gibt es schon früh Hinweise darauf, dass der Betreffende etwas Besonderes ist. Frühe Hinweise auf sein späteres Schicksal. Achten Sie mal darauf.
LIEBER ARM AB ALS ARM DRAN DIE ONKEL-THOBY-STORY
Onkel Thoby arbeitete als Gepäckabfertiger am Flughafen Heathrow, bis ihm die defekte Frachtluke eines Flugzeugs eines Tages ohne sein Verschulden den Arm abtrennte und dieser Arm versehentlich nach Dublin flog.
Was!
Zunächst merkte niemand, dass der Arm sozusagen auf eigene Faust nach Dublin unterwegs war. Seine Kollegen schafften Onkel Thoby auf schnellstem Weg ins Flughafengebäude und riefen einen Krankenwagen. Der Blutverlust hatte ihn geschwächt, und sie plünderten den erstbesten Koffer und versuchten die Blutung mit einem Bademantel zu stillen, doch bevor er ohnmächtig wurde, bat er sie um einen Gefallen. Rettet. Meinen. Arm. Seine Kollegen stürmten auf das Rollfeld, aber die Maschine war leider schon weg. Die Gepäckabfertiger in Irland staunten vermutlich nicht schlecht.
Es war eine ziemliche Katastrophe, aber Onkel Thoby konnte nichts dafür. Die beiden Metallstangen, die dazu dienten, die Frachtluke offen zu halten, waren gebrochen. Alle beide. Nicht zu fassen. Es war technisches Versagen. Doch weil er als Tollpatsch galt, gaben seine Arbeitgeber ihm die alleinige Schuld an der Amputation. Außerdem konnten sie auf die Dienste eines einarmigen Gepäckabfertigers gut verzichten. Und so wurde er fristlos entlassen.
Ist Onkel Thoby denn ein Tollpatsch.
Na, und wenn schon. Zugegeben, er bringt es fertig und stolpert über seine eigenen Füße. Einmal fiel er auf der Autobahn aus einem fahrenden Wagen und brach sich das Bein. Dann ging er mit dem Beinbruch segeln, fiel über Bord und wäre fast ertrunken, weil der Gips so schwer war. Und einmal, als er eine Erkältung hatte, versuchte er, ein Glas Wick VapoRub auf dem Herd zu erhitzen, damit sich die Dämpfe besser entfalten konnten. Leider hatte er vergessen, dass das abscheuliche Zeug hauptsächlich aus Fett besteht, und es spritzte und verbrannte ihm das Gesicht. Aber konnte man ihm allen Ernstes einen Vorwurf machen, weil die Frachtluke einer Boeing 727 ihm den Arm abgetrennt hatte. Wohl kaum.
Jetzt lag er also ohne Arm im Krankenhaus. Er hatte sich mit der Dubliner Flughafenleitung in Verbindung gesetzt, doch die hatte bezüglich seines Arms bereits »Maßnahmen« ergriffen, die es dauerhaft unmöglich machten, dass er seinen Arm jemals zurückbekommen würde. Was für Maßnahmen. Sie hatten ihn verbrannt. Aber was hätte er mit seinem alten Arm auch anstellen sollen. Annähen konnte man ihn ohnehin nicht mehr.
Er wusste natürlich, dass man ihn nach so langer Zeit nicht wieder annähen konnte – damit hatte er sich abgefunden. Was ihn jedoch zutiefst betrübte, war der Umstand, dass ihm keinerlei Erinnerung an seinen alten Arm geblieben war. Er war ihm nur mehr verschwommen im Gedächtnis. Hatte er Sommersprossen gehabt. Ja. Aber hatten sie ein Muster ergeben, und wenn ja, was für eins. Er hatte nie darauf geachtet. Ein Missgeschick auf dem Lopper (einer Achterbahn) hatte eine Narbe an seiner linken Hand hinterlassen. Diese Narbe würde er nie mehr wiedersehen. Er hatte schlicht und einfach einen Teil von sich verloren.
Auch litt er nicht am Phantomglied-Syndrom, von dem so viele Amputierte berichten. Wie hätte er sich über ein Phantomglied gefreut! Aber er hatte nicht das Gefühl, dass sein Arm noch existierte, weder hier noch in Dublin noch sonst wo. Der Arm war schlicht und ergreifend nicht mehr da.
Er bildete sich ein, dass die Sommersprossen an seinem Arm eine chiffrierte Botschaft an ihn enthielten, die er ohne Weiteres hätte entschlüsseln können, wenn er ihr nur die nötige Beachtung geschenkt hätte. Aber er hatte nicht darauf geachtet. Er starrte stundenlang erst auf seinen gesunden Arm und dann dorthin, wo sich von Rechts wegen sein linker Arm hätte befinden
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