Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
ausgestreckte Hand. Endlich lernen wir uns kennen, sagt er.
Hm. Er wird mich nicht verpetzen.
Als ich seine Hand ergreife, seine linke Hand, um ihn durchs Haus zu führen, fühlt sie sich an wie eine ganz normale Hand. Sie fühlt sich an wie 37 Grad Celsius.
Er riecht süßlich, wie Parfüm.
Ich mache ihn mit Wedge bekannt. Hallo, kleiner Mann, sagt er. Wedge trinkt unbeirrt aus seinem Fläschchen und sieht ausnehmend einnehmend aus. Beim Trinken hält Wedge sich mit beiden Händen an der Flasche fest. Onkel Thoby ist ausnehmend eingenommen. Er fragt mich nach der 18 an Wedges Ohr.
Die stammt noch aus seiner Zeit als Versuchsmaus, sage ich. Verlaine hat sie ihm tätowiert.
Soso, sagt er.
Ich kann reiten, sage ich. Aber das wusstest du ja schon aus meiner Biografie.
Außerdem habe ich es an deinem Helm erkannt.
Ah. Ja. Ich trage meine volle Reitmontur. Und dazu eine weiße Bluse mit Knöpfen an den Ärmeln, die man nicht aufmachen kann. Am Kragen hat sie einen IM-BISS-Fleck.
Ich zeige ihm die unendlich vielen Wedges im Drehspiegel.
Huch, sagt er.
Dann zeige ich ihm meinen Spiegelschwebetrick. Und jetzt du, sage ich, denn meinen Trick darf jeder wissen.
Onkel Thoby stellt sich links neben den Spiegel und bewegt den rechten Arm und das rechte Bein. Plötzlich ist seine Haarlocke verschwunden. Er hat zwei gleichlange Arme. Im Spiegel ist er nicht er selbst. Im Spiegel ist er der Symmetrische Onkel Thoby. Ich zerre an ihm. Gut jetzt, das ist mein Trick, sage ich, nicht deiner.
Wir gehen nach oben. Vor den Vampirbettpfosten vollführe ich ein kleines Tänzchen, um ihn abzulenken.
Er lässt sich nicht zweimal bitten und tanzt mit. Warum tanzen wir.
Essen fassen, ruft mein Dad von unten. Seine Stimme klingt so fröhlich, dass ich es sofort mit der Angst zu tun bekomme.
Gehen wir, sage ich. Ich nehme seine Hand.
Als wir uns zum Gehen wenden, fällt Onkel Thobys Blick auf einen Bettpfosten.
Ja. Tut mir leid.
Es ist Liebe. Aber es ein Unterschied, ob du jemanden schon am Flughafen liebst oder wenn du ihn durchs Haus führst, oder ob du ihn liebst, auch wenn dein Dad dabei ist, der allein und ausschließlich mit ihm spricht.
Künftig wird es also Gespräche geben, an denen du nicht beteiligt bist.
Du gehst die Post durch, laut. Sehr laut sogar. Du wedelst mit einer Wahlbroschüre. Byrne Doyle, verkündest du und verdrehst die Augen, ohne Onkel Thoby zu erklären, wer das ist.
Du erwähnst Jim Ryan. Und beiläufig auch deine im Werden begriffene Biografie, obwohl sie das schon lange nicht mehr ist.
Dein Dad erzählt die Geschichte von der krebserregenden Holzschutzlasur. Er erzählt, wie ihm Jim Ryan mit einem teeröltriefenden Pinsel vor der Nase herumgefuchtelt hat. Ach wirklich. Daran kann ich mich gar nicht entsinnen. Dein Dad erzählt die Geschichte wie einen Witz. Onkel Thoby lehnt am Kühlschrank und lacht.
Du sagst: Geh mal weg da, weil du die Milch aus dem Kühlschrank holen willst.
Und du wirst dein Lebtag nicht vergessen, wie er aufhört zu lachen, wie er höflich beiseitetritt und hilfesuchend um sich blickt, weil er nicht recht weiß, wohin.
Beim Essen erkundigt Onkel Thoby sich nach der Biografie, an der ich gerade schreibe. Ich sage, die hätte ich vorerst auf Eis gelegt.
Soso. Auf Eis.
Mein Dad und er zwinkern sich zu. Jetzt machen sie sich schon hinter meinem Rücken über mich lustig. Auch das ist neu.
Mein Dad erzählt weitere Jim-Ryan-Anekdoten. Wespen. Hörncheneinfahrt. Vorwärts rein, vorwärts raus. Mein Dad imitiert Jim Ryan. Täuschend echt. Seit wann denn das.
Das ist aber nicht sehr nett, sage ich.
Und schon ist Ruhe im Karton.
Ich ramme die Gabel so fest in meine Shepherd’s Pie, dass sie darin stehen bleibt, und hole das Ketchup aus dem Kühlschrank. Warum schreibe ich eigentlich nicht eine komische Biografie über Jim Ryan. So wie die Geschichten, die mein Dad erzählt, voller Witze und Parodien. Die eine oder andere Verfolgungsjagd könnte sicher auch nicht schaden.
Wir sitzen lange am Tisch und vergessen, das Licht anzumachen. Eine Farbe nach der anderen verschwindet. Onkel Thoby stellt den Ellenbogen auf den Tisch und stützt den Kopf in die Hand. Streicht sich die Haare nach hinten. Er sieht glücklich und zufrieden aus.
Langsam, aber sicher fallen mir die Augen zu. Ihre Stimmen klingen unendlich weit entfernt. Onkel Thoby bringt sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass Shirley MacLaine das Küchenfenster offen hält.
Dann plötzlich, rums, liege
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