Die erste Nacht - Roman
den ersten Rückenwirbeln entfernt gefunden.«
Keira nahm das kugelähnliche Objekt in die Hand.
»Gib mir etwas Wasser«, sagte sie neugierig.
Alvaro drehte den Verschluss seiner Feldflasche auf.
»Warte, nicht hier, besser außerhalb des Grabens.«
»Aber da sehen uns alle …«, flüsterte Alvaro.
Keira stieg, die Kugel in der Hand verborgen, aus dem Loch und entfernte sich ein wenig. Alvaro folgte ihr.
»Ganz vorsichtig, nur Tropfen für Tropfen«, sagte sie.
Niemand schenkte den beiden Beachtung. Aus der Ferne
sah es so aus, als würden sich zwei Kollegen die Hände waschen.
Keira rieb die Kugel behutsam, um sie von den darauf klebenden Sedimenten zu befreien.
»Noch ein bisschen«, sagte sie zu Alvaro.
»Was kann das sein?«, fragte der Archäologe, mindestens ebenso ratlos wie Keira.
»Komm, gehen wir wieder in den Graben.«
Geschützt vor den Blicken der anderen Kollegen reinigte Keira die Oberfläche der Kugel und nahm sie dann genauer in Augenschein.
»Sie ist durchscheinend«, sagte sie. »Und drinnen steckt irgendetwas, wie bei einer Kapsel.«
»Zeig her!«, drängte Alvaro.
Er nahm die Kugel zwischen die Finger und hielt sie gegen die Sonne.
»So sieht man viel besser«, sagte er. »Sieht aus wie Harz. Glaubst du, das war ein Anhänger? Ich bin völlig platt, so was habe ich noch nie gesehen. Verdammt, Keira, wie alt mag unser Skelett sein?«
Keira hielt die Kapsel jetzt auch ins Sonnenlicht.
»Ich glaube, dieses Ding wird uns deine Frage beantworten«, sagte sie und lächelte. »Erinnerst du dich an die Grabstätte des heiligen Januarius?«
»Hilf meinem Gedächtnis auf die Sprünge«, bat Alvaro.
»Der heilige Januarius war Bischof von Neapel und starb gegen 305 während der großen Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian in der Nähe von Pozzuoli. Ich erspare dir die Einzelheiten, die sich um die Legende dieses Heiligen ranken. Januarius wurde vom Prokonsul von Kampanien zum Tode verurteilt. Nachdem er unverletzt aus einem Feuerofen entstiegen und von Löwen, die man auf ihn hetzte, verschont worden
war, wurde Januarius enthauptet. Der Henker schlug ihm den Kopf und einen Finger ab. Wie es damals üblich war, sammelte eine Verwandte sein Blut ein und füllte damit die beiden Kännchen, mit denen er seine letzte Messe zelebriert hatte. Die Gebeine des Heiligen wurden oft umgebettet. Mitte des vierten Jahrhunderts, als er nach Antignano verlegt worden war, hielt die Verwandte, die das Blut aufbewahrt hatte, die Gefäße in die Nähe der sterblichen Hülle des Bischofs, und das inzwischen getrocknete Blut begann sich zu verflüssigen. Das Phänomen wiederholte sich im Jahr 1492, als die Reliquien nach Neapel in den Dom San Gennaro zurückgeholt wurden. Seither wird die Verflüssigung des Blutes von Januarius in Gegenwart des Erzbischofs von Neapel mit einer Zeremonie begangen. Neapolitaner auf der ganzen Welt feiern den Jahrestag seiner Exekution. Das inzwischen in zwei fest verschlossenen Ampullen aufbewahrte getrocknete Blut wird Tausenden von Gläubigen präsentiert; es verflüssigt sich und fängt in manchen Fällen sogar an zu sieden.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte ich Keira.
»Während du Shakespeare gelesen hast, habe ich Alexandre Dumas gelesen.«
»Und wie beim heiligen Januarius soll diese transparente Kugel, die ihr in dem Graben gefunden habt, das Blut des hier Ruhenden enthalten?«
»Es ist möglich, dass die verfestigte rötliche Masse im Inneren Blut ist, und wenn ja, so wäre auch das ein Wunder. Wir könnten fast alles über das Leben dieses Menschen erfahren, sein Alter, seine biologischen Eigenarten. Wenn wir seine DNA zum Sprechen bringen können, so wird es keine Geheimnisse mehr für uns geben. Jetzt müssen wir dieses Objekt an einem sicheren Ort verwahren und seinen Inhalt in einem Speziallabor analysieren lassen.«
»Wem willst du eine solche Aufgabe anvertrauen?«, fragte ich.
Keira fixierte mich mit einer Intensität, die keinen Zweifel ließ.
»Nicht ohne dich!«, erwiderte ich, bevor sie etwas sagen konnte. »Das kommt nicht infrage.«
»Adrian, ich kann sie nicht Eric anvertrauen, und wenn ich mein Team ein zweites Mal verlasse, wird man mir das nicht verzeihen.«
»Ich pfeife auf deine Kollegen, auf deine Recherchen, auf dieses Skelett und selbst auf diese Kapsel. Wenn dir etwas zustößt, könnte ich es dir auch nicht verzeihen! Selbst wenn es sich um die wichtigste wissenschaftliche Entdeckung handelt, ich reise nicht ohne dich
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