Die erste Todsuende
„Die Zeit drängt. Aber ich laß mich hinreißen. Die Hälfte meiner Familie ist in Treblinka umgekommen. Nun, wie dem auch sei: Der Stellvertretende Commissioner Broughton fing an, uns zu schikanieren. Der Mann ist gut, das leugne ich gar nicht. Schlau, energisch, aktiv. Und großmäulig. Das vor allem. Als Frank Lombard umgebracht wurde, machte sich daher die Agitprop-Abteilung der Gruppe ans Werk. Das war ganz natürlich, Frank Lombard war ein Mitglied der Gruppe."
Verwundert blickte Delaney ihn an. „Soll das etwa heißen, die vier Ermordeten hätten doch etwas Gemeinsames - wären politisch verbunden gewesen? Waren die anderen drei auch Mitglieder der Gruppe?"
„Nein, nein." Alinski schüttelte den Kopf. „Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Detective Kope konnte schon deshalb nicht Mitglied der Gruppe sein, weil sie unter einem Lieutenant keinen aufnehmen. Und Bernard Gilbert und Albert Feinberg konnten nicht dazugehören, weil sie Juden waren. Nein, Lombards Tod war ein Zufall, und ich nehme an, daß der Mann, den Sie gefunden haben, von der Gruppe noch nie etwas gehört hat, genau wie die meisten anderen. Doch die Ermordung Lombards kam der Gruppe wie gerufen. Erstens war er ein lautstarker Verfechter von Law and Order. Broughton sah jedenfalls seine Chance. Er befehligte die 'Sonderkommission Lombard'. Mit dem politischen Druck, über den die Gruppe verfügte, bekam er alles, was er wollte - Mitarbeiter, jegliche Hilfsmittel, unbegrenzte finanzielle Unterstützung. Kennen Sie Broughton eigentlich persönlich?"
„Ja."
„Unterschätzen Sie ihn bloß nicht. Er ist dreist wie der Teufel. Er glaubte, mit dem Fall Lombard im Handumdrehen fertig werden zu können. Damit hätte er einen Pluspunkt gewonnen und wäre seinem persönlichen Ziel, Commissioner zu werden, einen beträchtlichen Schritt nähergekommen. Fand er den Mörder aber nicht, konnte die Gruppe sich die Nase wischen. Deshalb fragte ich Thorsen und Johnson, wer in New York die besten Kriminalbeamten seien. Sie nannten Sie und Pauley. Broughton entschied sich für Pauley. Thorsen und Johnson baten um Sie, und wir waren damit einverstanden."
„Wer sind 'wir'?"
„Unsere Gruppe." Alinski lächelte. „Nennen Sie sie meinetwegen auch die 'Gegengruppe'. Gleichviel, im Augenblick ist die Situation folgende: Wir hoffen, daß auf der heute abend stattfindenden Sitzung Broughton die Leitung der 'Kommission Lombard' entzogen wird. Es ist nicht sicher, aber wir glauben, daß wir es schaffen. Jedoch nicht, wenn Sie jetzt hingehen und ihm den Mörder liefern."
„Zum Teufel mit Broughton!" sagte Delaney rauh. „Sein politischer oder persönlicher Ehrgeiz ist mir völlig schnurz. Ich gehe nicht zu ihm, wenn Sie mir drei Beamte in Zivil geben und dazu einen unauffälligen Streifenwagen mit zwei Mann."
„Aber sehen Sie denn nicht, daß das nicht geht?" erklärte Alinski geduldig. „Wie denn? Woher denn? Sie ahnen nicht, wie groß und mächtig die Gruppe inzwischen ist. Deren Leute sitzen überall, in jedem Revier, in jedem Sonderdezernat der Polizei. Nicht in den unteren Rängen - nein, in den oberen. Wir dürfen nicht riskieren, daß Broughton Wind davon bekommt, daß wir den Mörder kennen und ihn beschatten wollen. Sie wissen genau, was dann passiert. Mit heulenden Sirenen und einer Hundertschaft würde er angebraust kommen - gerade rechtzeitig nach dem Aufbau der Fernsehkameras - und Ihren Mann in Handschellen herausholen."
„Um ihn vor Gericht sofort wieder zu verlieren", sagte Delaney bitter. „Glauben Sie mir, im Moment könnte ich nicht mal Anklage gegen den Mann erheben, geschweige denn, ihn überführen."
Der Stellvertretende Bürgermeister sah wieder auf die Uhr und verzog das Gesicht. „Wir kommen zu spät", sagte er. Er ging zur Tür und machte sie auf. Thorsen und Johnson warteten draußen, schon in Hut und Mantel. Alinski forderte sie mit einer Handbewegung auf, ins Eßzimmer zu kommen und schloß die Tür hinter ihnen. Dann wandte er sich an Delaney: „Captain", sagte er, „vierundzwanzig Stunden. Falls Broughton dann noch immer an der Spitze der 'Kommission Lombard' steht, gehen Sie meinetwegen hin und erzählen Sie ihm, was Sie haben. Er wird Sie zwar kreuzigen, aber er wird den Mörder haben - und die Schlagzeilen -, ob der Mann nun überführt wird oder nicht."
„Sie wollen mir die Verstärkung nicht geben?" fragte Delaney.
„Nein. Ich kann Sie zwar nicht davon abhalten, jetzt gleich zu Broughton zu laufen, falls
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