Die erste Todsuende
er auch ging: auf der Straße, in Bars und Restaurants, bei Nacht, allein in seiner Wohnung. Auf der Straße sah er sich die Gesichter ihm entgegenkommender Fremder genau an oder drehte sich unvermutet um, um sich zu vergewissern, ob der Mann nicht hinter ihm herkam. Nachts, bei abgeschlossener, verriegelter Tür, die Sicherheitsstange vorgelegt, lag er in der Dunkelheit lange wach. Plötzlich waren sie da, die Nachtgeräusche: Gepolter, ein Knarren, ein kurzes Klicken. Dann stand er auf, knipste alle Lampen an und stapfte durch die Wohnung in dem Wunsch, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Aber er war nicht da.
Endlich kam Heiligabend. Bei Javis-Bircham würden sie ihn erst nach den Feiertagen hinauswerfen; das wußte er. Also konnte er leichten Herzens die Einladung der Mortons zu einer Weihnachtsparty annehmen und Celia bitten, mitzukommen. Er wollte ein wenig trinken, lachen, seinen Arm um Celias schlanke, harte Taille legen, da es dort die dunklen, drohenden Schatten sicher nicht gab.
Der Anruf erschütterte ihn in seinen Grundfesten. Wie konnte jemand wissen, daß er bei Mortons war? Vorsichtig nahm er den Hörer auf. Dann hörte er die leise, einschmeichelnde Stimme: „Frank Lombard. Sie kennen mich. Wir sind uns schon begegnet. Ich wollte Ihnen nur..."
Hals über Kopf verließ er die Wohnung, ließ Celia zurück, verabschiedete sich von niemand.Der Fahrstuhl brauchte eine Ewigkeit; es dauerte entsetzlich lange, ehe er die Tür aufgeschlossen und wieder hinter sich verriegelt hatte; und hundert Jahre, ehe er die Schublade herausgezogen und sie mit der Unterseite nach oben aufs Bett gelegt hatte... Eingehend untersuchte er den Umschlag, doch soweit er sehen konnte, war er unberührt. Er machte ihn auf: Es war alles da.
Er zog den schwarzen Samtanzug, den feinen weißen Rollkragenpullover und den geblümten Slip aus und stopfte alles in den Wäschepuff im Badezimmer. Er nahm die Via Veneto-Perücke ab und duschte so heiß er es ertragen konnte.
Er trocknete sich ab, besprühte sich mit Eau de Cologne, puderte sich und setzte die Perücke wieder auf. Dann zog er den Hausmantel mit dem Kranichdessin an und ging barfuß ins Wohnzimmer hinüber, um sich einen Wodka einzugießen und eine seiner Lattichzigaretten anzustecken.
Plötzlich ging ihm auf, daß an der Wohnungstür geläutet wurde, seit geraumer Zeit schon. Sorgfältig machte er die Zigarette aus und trank seinen Wodka, ehe er in die Diele ging und durch das Guckloch spähte: Es war Celia Montfort. Er schloß auf, um sie hereinzulassen und verschloß und verriegelte die Tür wieder hinter ihr.
„Du bist doch nicht krank, Dan, oder?"
„Und du redest doch hoffentlich nicht im Schlaf?" fragte er. Selbst ihm klang das Lachen übertrieben und gequält in den Ohren.
Sie starrte ihn an, ohne eine Miene zu verziehen.
Sie saß auf der Wohnzimmercouch und wartete geduldig, während er eine Flasche Bordeaux aufmachte und ihr ein hochstieliges Glas vollschenkte. Er selber nahm das Glas, aus dem er eben Wodka getrunken hatte. Vorsichtig nippte sie an dem Wein.
„Gut!" Sie nickte. „Wunderbar trocken."
„Was? Ach so, ja. Ich hätte mehr davon kaufen sollen. Inzwischen kostet er fast das Doppelte. Hast du irgendwem von mir erzählt?"
„Wovon redest Du, Dan?"
„Was ich getan habe. Hast du es irgend jemand erzählt?"
Ihre Antwort kam ohne Zögern, doch irgendwie war es keine Antwort: „Warum hätte ich so etwas tun sollen?"
Sie trug ein langärmeliges, eng anliegendes, hochgeschlossenes schwarzes Jerseykleid, das ihr bis auf die schwarzen Seidenpumps herunterhing, und um den Hals eine ungefähr zwei Meter lange Zuchtperlenkette, so oft darum geschlungen, daß sie eng um ihren Hals saß und sie zwang, den Kopf ganz gerade zu halten.
Er hatte — genau wie damals, als sie sich kennenlernten - das Gefühl, daß er sie nie wirklich kennen, daß er vergessen würde, wie sie aussah, wenn er sie nicht sah. Langes schwarzes, fast violettes Haar; ein hexenhaftes Gesicht; schlanke Hände; aber die Augen - waren sie grau oder blau? Hatte sie volle oder schmale Lippen? Eine griechische Nase - oder nur eine scharf geschnitten-hagere? Und der blasse Teint, das Ausgelaugt-Müde, dieser Hauch von Verderbtheit, weiße Haut, gemartert - woher kamen nur all diese Phantasiebilder? Sie war noch genauso geheimnisvoll für ihn wie bei ihrem ersten Kennenlernen. War das tausend Jahre her?
Sie saß auf der Couch, gelassen, in sich zurückgezogen, und
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