Die erste Todsuende
es sich abgespielt haben. Sofern der Mörder entschlossen genug war und die Nerven dazu hatte - und Glück, selbstverständlich. Glück gehört immer dazu. Niemand schaut aus dem Fenster. Niemand ist um diese Stunde auf der Straße. Auch kein Taxi, das plötzlich aus der York Avenue einbiegt und ihn in dem Augenblick, da er zuschlägt, anleuchtet. Aber angenommen, der Mörder hatte wirklich Glück, dann war das alles — o Gott!
Die Brieftasche! Die verdammte Brieftasche hatte er völlig vergessen.
Die Brieftasche war eine von denen, die man zusammenklappt und gewöhnlich in der Gesäßtasche trägt. Delaney hatte bemerkt, daß sie entsprechend der Gesäßform eine leichte Wölbung aufwies. Er selber benutzte genauso eine. Wenn man sie einige Monate in Gebrauch hatte, nahm sie von selbst diese Wölbung an.
Lombard hatte einen dreiviertellangen Automantel getragen, der mit Holzknebeln zugeknöpft wurde. Mantel und Jacke waren über die Gesäßtaschen hochgeschlagen gewesen. Warum hatte der Mörder sich die Mühe gemacht, seinem Opfer die Brieftasche wegzunehmen, sie dann aber neben der Leiche liegen gelassen, obwohl sie prall mit Scheinen gefüllt war? Jeden Augenblick, den er verweilte, jede Sekunde schwebte der Mörder in Gefahr. Trotzdem hatt er sich die Zeit genommen, die Leiche zu durchsuchen und die Brieftasche herauszuziehen. Und dann hatte er sie aufgeklappt neben der Leiche liegen gelassen.
Warum hatte er das Geld nicht genommen — oder überhaupt die ganze Brieftasche? Bestimmt nicht, weil er Angst bekommen, weil jemand ans Fenster getreten oder in der Straße aufgetaucht war. Ein Mann, der den Mumm hatte, sich seinem Opfer von vorn zu nähern, hätte auch die Kaltblütigkeit besessen, seine Beute an sich zu nehmen, selbst in akuter Gefahr. Mit einer Brieftasche konnte man genauso schnell laufen wie ohne. Was hatte er gewollt? Feststellen, um wen es sich bei seinem Opfer handelte? Oder hatte er etwas aus der Brieftasche herausgenommen? Und wenn ja, was?
Delaney ging bis zur York Avenue, machte kehrt und begann von neuem.
Jetzt bin ich der Mörder und trage einen Mantel überm Arm. Unter dem Mantel...
Delaney wußte so gut wie jeder andere Polizist, wie groß die Aussichten waren, diesen bestimmten Mordfall aufzuklären. Er wußte, daß 1971 in New York mehr Menschen ermordet wurden als im selben Zeitraum Soldaten in Vietnam gefallen waren. In New York wurden täglich nahezu fünf Menschen erschossen, erstochen, erwürgt, erschlagen, verbrannt oder von Dächern gestürzt. Was bedeutete schon eine Gewalttat mehr in einem solchen blutrünstigen Hexenkessel?
Wenn das jedoch zur allgemeinen Einstellung wurde, zu einer Haltung, die allgemein akzeptiert wurde, zur Einstellung der Gesellschaft - „Was bedeutet schon einer mehr?" -, dann war der Mord an Frank Lombard ein Ereignis ohne besondere Bedeutung. Wenn die Pest grassiert, trauert man nicht mehr um einzelne.
Als Captain Edward X. Delaney jenem Reporter auseinandersetzte, warum er Polizist geworden war, sagte er, was er dachte: daß er an eine ewige Harmonie im Universum glaube, in allen Dingen; beseelten wie unbeseelten, und daß das Verbrechen einen Mißklang in dieser Sphärenmusik darstelle. Das war es, was Delaney dachte.
Doch bei den ersten tastenden Versuchen, das Verbrechen zu rekonstruieren, mußte er sich eingestehen, daß es ein Motiv gab, das tiefer saß, mehr im Gefühl verankert als im Denken. Noch nie hatte er mit jemandem darüber gesprochen, auch mit Barbara nicht, wiewohl er vermutete, daß sie es längst erraten hatte.
Vielleicht weil er als Katholik erzogen war, versuchte er, die Welt wieder einzurenken. Er wollte Gottes Instrument auf Erden sein, ein Wunsch, dessen er sich schämen sollte, wie er sehr wohl wußte. Er erkannte die Sünde darin. Sie hieß Stolz.
12
Was war das? Er erkannte nichts. Angstvoll suchte er nach einem Lebenszeichen und starrte und starrte, bis er schließlich wahrnahm, wie die nicht mehr als bei einem Knaben gerundete Brust sich langsam und matt hob und senkte. Die Leiche von Frank Lombard fiel ihm ein, und er überlegte hin und her. Was für eine Beziehung bestand zwischen den beiden? Dann wurde es ihm klar: Er sah beide wie durch einen Nebel hindurch. Seine Augen waren feucht und geschwollen.
„Sie steht noch schwer unter Sedativa", flüsterte die Schwester, „aber sie macht wirklich gute Fortschritte. Dr. Bernardi wartet im Chirurgenzimmer auf Sie."
Er suchte nach etwas, auf das er einen Kuß
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