Die Erwaehlten
hatte Jess in ihrem tiefsten Inneren so ein Gefühl, als ob Dess eigentlich mit ihr ins Gespräch kommen wollte. Ihr helfen wollte, ihre neue Stadt zu verstehen, oder sie vor etwas warnen wollte. Dess hatte mit dem seltsamen Traum absolut recht gehabt. Natürlich wurde Dess damit nicht notwendigerweise zur Gedankenleserin, und es hieß auch nicht, dass die Wasserversorgung von Bixby verantwortlich war. Viele Leute hatten seltsame Träume, wenn sie die Umgebung wechselten. Dess hatte möglicherweise geahnt, dass Jessica wegen des Umzugs ausgeflippt war, und hatte beschlossen, dass es lustig sein könnte, wenn sie noch ein kleines bisschen mehr ausflippen würde.
Was funktioniert hatte.
Als Jessica im Speisesaal ankam, strömte der leicht ranzige Geruch nach Gebratenem durch die offene Doppeltür, zusammen mit dem Lärm von zahllosen Stimmen. Jessicas Schritt verlangsamte sich, als sie über die Schwelle trat. Da sie neu war, überkam sie immer noch einige Sekunden lang Panik, während sie zu entscheiden versuchte, wo sie sitzen sollte. Sie wollte keine neuen Freunde enttäuschen, aber auch nicht bei Leuten hängen bleiben, über die sie nicht genau Bescheid wusste.
Kurze Zeit hätte sie sich fast gewünscht, dass Dad keine Lunchpakete für sie packen würde. Während man in einer Schlange auf die offizielle Bixbypampe wartete, hätte man mehr Zeit zum Sondieren gehabt, wo man sitzen sollte. Vielleicht war das Schulessen deshalb erfunden worden. Mit dem Nährwert konnte es jedenfalls nichts zu tun haben. Oder dem Geschmack.
Während ihre Augen durch den Raum wanderten, schwärmten die Schmetterlinge in Jessicas Bauch wieder aus. Da war Dess, die geradewegs zu ihr herübersah. Das Mädchen musste eine Abkürzung zum Speisesaal durch das Gewühl an der Bixby High genommen haben. Sie saß in einer entfernten Ecke mit zwei Freunden an einem Tisch. Die anderen waren genau wie sie schwarz gekleidet. Jess erkannte den Jungen von ihrem ersten Tag an der Schule. Sie erinnerte sich, dass sie sich beim ersten Betreten der Bixby High kurz gefürchtet hatte, vor lauter Panik, sie könnte zu spät kommen. Die Erinnerung war eigenartig klar; das Bild, wie ihm seine Brille weggeschlagen wurde, hatte sich in ihrem Gedächtnis fest verankert. Jessica fragte sich, warum sie ihn seitdem nicht mehr gesehen hatte. Mit seinem langen, schwarzen Mantel hätte der Typ an der Bixby High auffallen müssen. An der PS 141 hatte es etliche Kids wie ihn und Dess gegeben, aber hier gab es höchstens drei oder vier. In Oklahoma war es zu warm und sonnig für das ganze Vampirgetue.
Es sei denn, man war „fotophobisch“. Falls Dess ihr in dieser Sache die Wahrheit erzählt hatte.
Jetzt sah auch der Junge zu Jessica hinüber, als ob sie beide damit rechnen würden, dass sie sich zu ihnen setzte. Das andere Mädchen am Tisch starrte in die Luft, mit Kopfhörern in den Ohren.
Jessica sah sich um, wo sie sich noch hinsetzen könnte. Für heute hatte sie genug von Hirnakrobatik. Sie suchte nach Constanza oder Liz, konnte aber weder sie noch eins der anderen Mädchen vom Bibliothekstisch entdecken. Ihre Augen suchten nach einem bekannten Gesicht, aber Jess erkannte niemanden. Die vielen Gesichter verschwammen zu einer verwirrenden Masse. Sie sah die Cafeteria nur noch unscharf, der Schwindel erregende Lärm der Stimmen attackierte sie von allen Seiten. Ihr Zögern hielt an, bis sie sich plötzlich total konfus vorkam.
Irgendwie liefen ihre Füße aber weiter, trugen sie näher an Dess’ Tisch heran. Das Mädchen und ihre Freunde waren der einzige stabile Teil des Raumes. Instinkt zog Jessica in ihre Richtung.
„Jessica?“
Sie drehte sich um, erkannte ein Gesicht im Nebel. Ein sehr attraktives Gesicht.
„Ich bin Jonathan, aus dem Physikkurs. Erinnerst du dich?“
Sein Lächeln durchdrang den Nebel und hüllte sie ein. Seine dunklen, braunen Augen waren sehr deutlich zu erkennen.
„Klar. Jonathan. Physik.“ Er war ihr im Unterricht tatsächlich aufgefallen. Wäre jedem passiert.
Jessica stand da, unfähig, weiterzureden. Aber wenigstens hatte sie es geschafft, nicht mehr auf Dess’ Tisch zuzugehen. Ihr Schwindel ließ nach.
Ein besorgter Blick huschte über sein Gesicht. „Willst du dich setzen?“
„Ja. Das wäre prima.“
Er führte Jessica an einen freien Tisch, in der gegenüberliegenden Ecke von Dess. Ihr Schwindel verschwand. Dankbar ließ sie ihre Büchertasche und die Lunchtüte auf den Tisch plumpsen, während sie sich
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