Die Erwaehlten
erinnerte sie sich, wie Antilopen Geparden entkamen: indem sie Haken schlugen, so dass die schwereren, weniger beweglichen Katzen vorbeischossen und zu Boden taumelten, bevor sie sich zu einem neuen Angriff bereit machen konnten.
Es gab nur ein Problem: Jessica war keine Antilope.
Sie riskierte einen Blick über ihre Schulter. Der Panther war nur wenige Sprünge hinter ihr, aus dieser Nähe entsetzlich groß. Jessica bog ab, auf eine Weide vor dem nächsten Haus zu, einen ausladenden, alten Baum, der den ganzen Vorgarten überschattete. Sie zählte von fünf ab rückwärts, als sie darauf zu rannte. Hinter sich hörte sie, wie die Schritte der Katze im Gras näher und näher kamen. Bei eins warf sich Jessica hinter dem dicken Stamm zu Boden.
Der Panther machte einen Satz über sie hinweg, ein dunkler Schatten, der den Mond für den Bruchteil einer Sekunde verdeckte. Mit dem Luftzug der springenden Katze gab es ein kratzendes Geräusch, als ob die Luft reißen würde.
Jessica hob ihren Kopf. Die große Katze kam in der nächsten Einfahrt schwankend zum Stehen, vom kratzenden Geräusch der Krallen auf dem Asphalt bekam sie eine Gänsehaut. Dann sah sie die Schrammen wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht und schluckte. Im Baumstamm gab es drei lange, mörderische Risse, direkt über ihr, wo ihr Kopf gewesen war. Für kurze Zeit leuchtete das frisch entblößte Holz weiß, bis der Mond es blau tränkte.
Sie stand auf und rannte.
Zwischen zwei Häusern entdeckte sie eine schmale Lücke, ein überwuchertes Rasenband, und dunkle Umrisse. Jessica stürzte instinktiv auf den engen Spalt zu. Sie stürmte durch das hohe Gras, wich einem alten, rostigen Rasenmäher aus, der an einer Mauer lehnte, dann hielt sie plötzlich taumelnd inne.
Am anderen Ende der Lücke war ein Maschendrahtzaun.
Jessica rannte darauf zu. Einen anderen Ausweg gab es nicht.
Sie sprang, so hoch sie konnte, krallte ihre Finger in die Maschen des Metalls und zog sich hoch. Ihre Füße suchten Halt, wobei die nackten Zehen besser griffen als Schuhe, aber auch viel schmerzhafter. Wenigstens war der Zaun neu, das Metall glänzend und ohne Rostspuren.
Während Jessica kletterte, konnte sie den rasselnden Atem des Riesenpanthers hören, der sich zwischen den beiden Häusern fing. Das Biest schob sich durch das hohe Gras und machte dabei ein Geräusch wie Blätter im Wind. Sie war oben am Zaun angekommen, schwang sich darüber, worauf sie auf gleicher Höhe mit ihrem Verfolger hing.
Das Ungeheuer war nur wenige Meter von ihr entfernt. Es starrte ihr in die Augen. In jenen tiefen, tintenblauen Teichen glaubte Jessica eine altertümliche Intelligenz zu entdecken, alt und grausam. Plötzlich wusste sie, wider alle Vernunft, dass dies hier nicht nur ein Tier war; es war etwas viel, viel Schlimmeres.
Wobei das hier natürlich nur ein Traum sein konnte: Das nackte Böse, das sie hier anstarrte, gab es nur in ihrem Kopf.
„Psychosomatik“, flüsterte sie leise.
Die Kreatur hob eine riesige Pranke, um nach Jessicas Fingern zu schlagen, die noch im Zaun steckten. Sie löste ihren Griff und stieß sich ab. Als sie fiel, explodierte ein blauer Funkenregen vor ihr, ließ die schimmernden Fänge der großen Katze aufleuchten und die Häuser, die zu beiden Seiten aufragten. Der ganze Zaun schien zu brennen, blaue Feuer liefen überall an den Drähten entlang. Das Feuer schien die Pranke des Ungeheuers anzuziehen, durch die langen Krallen, die sich für einen Moment in den Drahtmaschen verfangen hatten, in das Biest zu fahren.
Dann hatte sich die Kreatur anscheinend befreit; die Welt verfinsterte sich.
Jessica landete weich am Boden, die ungemähte Wiese hatte ihren Sturz abgefangen. Sie blinzelte geblendet; das Netzbild des Zauns hatte sich in ihren Augen eingebrannt, flirrende blaue Rhomben überlagerten alles, was sie sah. Von dem Geruch nach verbranntem Fell wurde ihr kotzübel.
Verwundert betrachtete sie ihre Hände. Sie waren unverletzt, bis auf die dreieckigen roten Male, wo sie sich am Zaun hochgezogen hatte. Wenn der Zaun unter Strom gestanden hatte, wieso hatte sie sich nicht genau wie die Katze verbrannt? Jetzt gab es keine Funken mehr außer den eingebildeten Nachbildern, und der Zaun vor ihr war heil. Sie fragte sich, warum der Panther ihn nicht mit einem einzigen Prankenschlag eingerissen hatte.
Jessica spähte durch das Metall zu ihrem Verfolger hinüber, blinzelnd, um wieder klar sehen zu können. Der Panther schüttelte verwirrt seinen Kopf,
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