Die Erwaehlten
herumgeschlichen und hat sich angepirscht, während ich geschlafen habe.“
Jessicas Eltern sahen sie an, mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ich hab mich nicht angepirscht“, sagte Jessica. Sie stach mit ihrer Gabel auf die huevos rancheros – Eier mit Käse – ein, die Dad gemacht hatte, in der Hoffnung, das Thema würde sich einfach erledigen. Sie hätte wissen müssen, dass Beth über ihren Besuch in der letzten Nacht nicht die Klappe halten würde.
Als Jessica aufsah, starrten sie immer noch alle an. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich konnte nicht schlafen, also bin ich reingegangen, um nachzusehen, ob Beth wach ist.“
„Und hast einen kleinen Vortrag gehalten“, ergänzte Beth.
Jessica spürte, wie sie rot wurde. Ihre kleine Schwester wusste stets instinktiv, welcher Weg zu maximalem Ärger führte. Sie wollte, dass alle unbequemen Fakten auf den Tisch kamen. Sämtliche unangenehmen Momente mussten unbedingt von ihr kommentiert werden.
„Einen Vortrag?“, fragte Dad. Er saß in einem seiner Schlaf-T-Shirts ihr gegenüber am Tisch. Das T-Shirt trug das Logo einer Softwarefirma, für die er gearbeitet hatte, die einst leuchtenden Farben waren verblasst. Sein Haar war ungewaschen, und er hatte sich seit Tagen nicht rasiert.
Mom aß im Stehen, war bereits für die Arbeit fertig angezogen, im Zweiteiler mit Bluse, deren strahlend weißer Kragen in der sonnendurchfluteten Küche leuchtete. In Chicago hatte sie sich für die Arbeit nie so aufgestylt, deshalb vermutete Jessica, dass sie ihren neuen Chefs imponieren wollte. Mom hatte früher auch nie samstags gearbeitet. „Warum konntest du nicht schlafen?“
Jessica wurde bewusst, dass sie das unmöglich mit der Wahrheit erklären konnte. Bevor sie heute Morgen unter die Dusche gegangen war, hatten ihre Fuße fast schwarz ausgesehen, ziemlich genau wie die Füße von jemandem, der einen Kilometer barfuß über den Asphalt gelaufen ist. An ihren Handflächen sah man immer noch blassrosa Spuren, außerdem hatte sie einen Kratzer an der Hand, wo der Gleiter sie gebissen hatte.
Sicher bestand noch eine winzige Chance, dass alles nur ein Traum gewesen war, mit Schlafwandeln und Schlafzäuneklettern. In wenigen Stunden würde sie die Möglichkeit prüfen.
„Jessica?“
„Ach so, ’tschuldigung. Ich bin heute wohl irgendwie müde. Ich träume so komische Sachen, seit wir umgezogen sind. Davon wache ich auf.“
„Ich auch“, meinte Dad.
„Logo, Dad“, sagte Beth, „aber du kommst nicht in mein Zimmer und hältst kleine Vorträge.“
Alle drei sahen Jessica erwartungsvoll an, Beth mit einem hämischen Grinsen.
Normalerweise hätte Jessica einen Witz gerissen oder wäre rausgegangen, nur um dem Ärger irgendwie aus dem Weg zu gehen. Sie hatte aber schon geschwindelt, warum sie nicht schlafen konnte. Sie beschloss, in Sachen Wahrheit nachzubessern.
„Ich wollte Beth einfach nur sagen“, hob sie zögernd an, „dass ich weiß, wie hart der Umzug für sie ist. Und dass ich für sie da bin.“
„Das ist so peinlich“, sagte Beth. „Mom, sag Jessica, sie soll nicht so peinlich sein.“
Jessica spürte, wie ihre Mutter ihr leicht über den Hinterkopf streichelte. „Ich finde, das war wirklich lieb, Jessica.“
Beth gab einen Grunzlaut von sich und floh mit ihrem Frühstück aus der Küche. Aus dem Wohnzimmer hörte man die Geräusche von Zeichentrickfilmen.
„Das war wirklich erwachsen von dir, Jess“, sagte Dad.
„Ich hab’s nicht getan, weil ich erwachsen sein wollte.“
„Ich weiß, Jessica“, sagte Mom. „Aber du hast recht – Beth braucht gerade jetzt unsere Unterstützung. Versuch es weiter.“
Jessica zuckte mit den Schultern. „Logo.“
„Also dann, ich muss jetzt gehen“, sagte Mom. „Ich werde heute Nachmittag den Windkanal ausprobieren.“
„Viel Glück, Mom.“
„Tschüss, ihr Süßen.“
„Tschüss“, antworteten Jessica und ihr Vater im Chor. Die Tür hatte sich kaum geschlossen, als sie ihr jeweiliges Frühstück vor den Fernseher mitnahmen. Beth machte für Jessica auf dem Sofa Platz, sagte aber kein Wort.
In der ersten Pause zwischen zwei Zeichentrickfilmen nahm Beth aber dann ihren leeren Teller an sich, um ihn wegzutragen, zögerte und sah auf Jessicas Teller hinunter.
„Fertig?“
Jessica sah auf. „Ja, schon …“
Beth beugte sich vor und stapelte Jessicas Teller auf ihren eigenen, dann trug sie die beiden klappernden Teile in die Küche zurück.
Jessica und ihr Vater tauschten Blicke
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