Die Erwaehlten
regte sich Jessicas Dad mehr auf als ihre Mom.
Mom öffnete in ihren Umzugsklamotten die Tür – vermutlich war sie immer noch in der Küche beschäftigt gewesen. Sie hatte ruhig mit der Polizei gesprochen und sich dafür bedankt, dass sie ihre Tochter nach Hause gebracht hatten. Ohne ein einziges Mal die Stimme zu heben, hatte sie Jessica befohlen, in der Küche zu warten, während sie Dad weckte.
Der war ausgeflippt.
Auch jetzt waren seine Augen noch weit aufgerissen, seine Haare, durch die er ständig mit den Händen fuhr, standen ihm zu Berge. Mom hatte ihm mehrfach gesagt, er sollte Beth nicht wecken, aber Jessica konnte sich nicht vorstellen, wie ihre kleine Schwester bei seinem Geschrei schlafen sollte. Was ihn am meisten aufbrachte, war der Kratzer in ihrem Gesicht, von dem sie spürte, dass er gerade aufzublühen begann.
Es gab Zeiten, in denen es sich sehr wohl bezahlt machte, eine nüchterne Technikerin zur Mutter zu haben. Mom hatte schnell erkannt, dass Jessicas Schrammen und Beulen ausnahmslos von Grasflecken begleitet wurden. Sogar um die Schürfwunde an ihrem nackten Ellenbogen zog sich ein grüner Rand. In ihrem Haar hing immer noch Gras.
Sie sah aus wie eine Zehnjährige am Ende eines langen Sommertages.
„Du bist also tatsächlich hingefallen, nicht wahr, Liebes?“
Jessica nickte. Sie traute sich noch nicht zu sprechen. Sie hatte sich schon so feige benommen, als die Polizei aufgetaucht war. Während Jonathan total ruhig geblieben war, hatte sie sich auf dem Rücksitz die Augen ausgeheult.
Sie hatte alles durcheinandergebracht. Als weltschlimmster Darklingmagnet hatte sie Jonathans Hand nicht festgehalten. Ihr Sturz, ihr Aussehen, als die Cops aufgetaucht waren – alles ihre Schuld.
„Du siehst aus, als wärst du einen Hügel runtergerollt, Jessica.“
„Stimmt“, brachte sie mühsam hervor. „War nur ein Spiel.“
„Ein Spiel !“,wiederholte Dad laut. Er regte sich jedes Mal neu auf, wenn sie etwas sagte, als ob er ihre Stimme nicht ertragen könnte.
„Don.“ Manchmal, wenn Mom mit Dad redete, hatte sie einen Unterton in der Stimme, den sie bei Jessica oder Beth nie benutzte. Er sagte nichts mehr, saß nur noch da und raufte sich die Haare.
Jessica holte Luft und warf einen Blick auf ihre Knie. Sie taten weh. Der allgemeine Schmerz in ihrem Körper teilte sich jetzt in individuelle Schmerzpunkte auf. Eine von den Beulen tat eine Weile weh, dann nicht mehr so, während eine andere übernahm, wie eine Meute von wütenden kleinen Jungs, die abwechselnd auf einen von den Großen eindreschen. Im Moment pochte der Kratzer auf ihrer Wange im Takt mit ihrem Herzen, weshalb sich ihr Gesicht schief und grotesk anfühlte. Sie berührte ihn vorsichtig.
Mom sprühte irgendein beißendes Zeug auf einen Waschlappen und betupfte die Stelle.
„Jessica, sag mir, was passiert ist. Wann bist du gegangen?“
Jessica schluckte. Zum letzten Mal hatte sie ihre Eltern direkt nach dem Abendessen gesehen. „Jonathan kam ungefähr um zehn. Ich dachte, wir würden nur einen kleinen Spaziergang machen.“
„Die Polizei hat aber gesagt, dass ihr euch um Mitternacht drüben bei Aerospace aufgehalten habt. Menschen laufen nicht schneller als ein paar Meilen pro Stunde.“
Jessica seufzte. Es gab auch Zeiten, in denen einem eine Mutter, die Technikerin war, auf die Nerven ging. Bixby war nicht so groß, Mom arbeitete aber auf der anderen Seite der Stadt. Wie viele Meilen weit weg, wusste Jessica nicht genau.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, es war, gleich nachdem ich ins Bett gegangen bin.“
„Das war lange vor zehn, Jessica. Direkt nach dem Essen“, sagte ihr Vater. „Ich habe mich noch gewundert, dass du so früh zu Bett gegangen bist. Wusstest du, dass er vorbeikommen wollte?“
„Nein. Er kam einfach so.“
„Und du bist einfach nur mit ihm spazieren gegangen?“
„Er ist mit mir im Physikkurs.“
„Die Polizei sagt, er wäre ein Jahr älter als du“, sagte Mom.
„In meinen Physikkurs für Fortgeschrittene. “
Sie sagte nichts mehr. Dafür fing Dad wieder an.
„Warum bist du so früh ins Bett gegangen?“
„Ich war müde, weil ich heute so viel gearbeitet hatte.“
„Warst du wirklich den ganzen Tag im Museum? Oder mit ihm zusammen?“
„Ich war im Museum. Er war nicht dabei.“
Er nickte. „In der ersten Schulwoche einen ganzen Tag Hausaufgaben machen? Können wir diese Hausaufgaben sehen?“
Sie schluckte. Da gab es nichts, was sie ihnen zeigen
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