Die Erwaehlten
konnte. Sie hatte sich ein paar Notizen gemacht, aber Rex feierlich versprochen, sie niemandem zu zeigen. Wann hatte sie angefangen, ihre Eltern zu belügen? Als sie aufgehört hatte, die Welt zu verstehen, vielleicht.
„Ich habe recherchiert.“
„Und was?“
„Über eine mögliche Verbindung zwischen den Werkzeugtechniken von Solutreen-Steinzeitkulturen in Spanien und bestimmten Prä-Clovis-Speerspitzen, die man am Cactus Hill in Virginia gefunden hat“, rasselte sie herunter.
Dad starrte sie verblüfft an.
Jessica blinzelte vor Überraschung über ihre eigenen Worte. Offensichtlich war von ihrem Crashkurs in Midnighterlehre doch einiges in ihrem Hirn hängen geblieben. Sie erinnerte sich, wie Rex ihr die langwierige Entwicklung der Speerspitzen gezeigt hatte, und den Schnitt, als sich alles mit einem Mal verändert hatte.
„Vor ungefähr zwölftausend Jahren gab es einen technologischen Sprung bei den Speerspitzen der Neuen Welt“, sagte sie ruhig und konzentriert. Solange sie über dieses Zeug erzählte, war ihr wenigstens nicht zum Heulen. So hatte sie sich unter Kontrolle. „Eine verbesserte Nut in der Mitte und schärfere Kanten. Manche Leute glauben, dass die Weiterentwicklung irgendwie von Europa rübergekommen ist.“
„Ist schon gut, Kleines. Wir glauben dir“, sagte Mom und tätschelte ihre Hand. „Bist du sicher, dass Jonathan dich nicht irgendwie mit einem Auto mitgenommen hat?“
„Bin ich. Wir sind bloß aus Versehen viel weiter gelaufen, als ich gedacht hatte. Ehrlich.“
„Weißt du, dieser Junge ist vorher schon mit der Polizei in Konflikt geraten.“
Jessica schüttelte ihren Kopf. „Davon wusste ich nichts.“
„Nun, jetzt weißt du es. Und du wirst dieses Haus nie mehr verlassen, ohne es uns vorher zu sagen, in Ordnung?“
„In Ordnung.“
„Und du wirst einen Monat lang nirgendwo hingehen, außer in die Schule“, fügte Dad hinzu.
Mom sah einen Moment lang so aus, als wäre sie damit nicht glücklich, nickte aber.
„Ich würde jetzt gern schlafen gehen“, sagte Jessica.
„In Ordnung, Liebling.“
Mom begleitete sie bis in ihr Zimmer und gab ihr einen Gutenachtkuss.
„Ich bin nur froh, dass dir nichts passiert ist. Es ist gefährlich da draußen, Jessica.“
„Ich weiß.“
enthüllungen
11.59 Uhr nachts
17
Die Wände waren in einem tiefen Purpur gestrichen, das während der geheimen Stunde zu Schwarz wurde. An einer Wand hing eine Tafel, die Dess für ihre Berechnungen verwendete, wenn sie bei seltenen Gelegenheiten nicht im Kopf rechnen konnte. An einer anderen hing ein Selbstportrait, das Dess aus Legosteinen in Grau, Schwarz und Weiß zusammengesetzt hatte, wie grobe Pixel auf einem Computerbild. Sie hatte vorgehabt, das Bild auf den neusten Stand zu bringen, da sie sich die Haare inzwischen schwarz gefärbt und kürzer hatte schneiden lassen. Aber der Gedanke, all die Legosteine auseinanderzunehmen und von vorn anzufangen, war zu entmutigend. Außerdem gab es im Unterschied zum Computerbild keine Möglichkeit, das Original zu sichern.
In der Mitte des Raumes stand eine Spieldose, auf der eine Ballerina reglos verharrte. Das pinkfarbene Tutu der Ballerina war längst durch dunkelviolette Gaze ersetzt worden, ihr blondes Haar mit schwarzer Tinte gefärbt und winziger Metallschmuck, den Dess aus aneinandergelöteten Büroklammern angefertigt hatte, vervollständigte das Outfit. Die Ballerina hieß Ada Lovelace. Die Eingeweide der Musikbox standen offen, so dass Dess Adas Bewegungen verändern konnte, indem sie die Position der Zahnräder veränderte. Sie hatte außerdem einige der winzigen Zapfen an der Rotationswalze abgefeilt, die die Musik hervorbrachten, damit sie sich nicht mehr ganz so lieblich und vorhersehbar anhörte. Die veränderte Melodie hatte keinen Anfang und kein Ende, sie war nur eine zufällige Abfolge von ,Pings‘, die zu jeder Choreografie passten.
In dieser Nacht roch es im Zimmer nach verbranntem Metall.
Dess hatte den ganzen Tag an einer Waffe gearbeitet, die ihr Leben als Mikrofonständer in einem Musikaliengeschäft begonnen hatte. Den Laden hatte sie aufgesucht, um Gitarrensaiten aus Stahl zu erwerben. Sie wollte damit Muster entwerfen und sie zum Schutz an ihren Fenstern und Türen anbringen. Als sie jedoch den Ständer entdeckte, hatte Dess beschlossen, all ihre Sommerersparnisse zu opfern. Brandneues Metall, garantiert sauber und von nicht menschlichen Händen unberührt, selbst wenn etliche Dreizehnjährige damit
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