Die Erwaehlten
bemühte sich, Dess’ Augen hinter den dunklen Gläsern zu erkennen, und stellte fest, dass sie die Wahrheit sagte. Sie mochte zwar ziemlich seltsam sein, aber ehrlich war Dess immer zu ihr gewesen. Sie hatte von Anfang an versucht, ihr zu erklären, dass die Dinge hier in Bixby anders liefen. Natürlich war Dess nie in der Lage gewesen, einfach loszulegen und alles zu erklären, aber dafür konnte sie eigentlich nichts. Dafür waren die Zusammenhänge zu kompliziert gewesen.
Jessica lächelte. Samstagnacht war zwar schrecklich ausgegangen, aber sie war trotzdem froh, dass Dess Jonathan von ihr erzählt hatte.
„Es kam ziemlich überraschend. Und du hast recht, spitzenmäßig war es auch.“ Jessica seufzte. „Bis eine Ladung Darklinge aufgetaucht ist, mir zu Ehren. Und fünf Minuten nachdem wir sie abgehängt hatten, war die Polizei da. Er hält mich wahrscheinlich für eine wandelnde Katastrophe.“
„Mach dir nicht zu viele Gedanken um Jonathan, Jess. Wir saßen alle schon auf dem Rücksitz in Clancy St. Claires Auto. Das gehört hier dazu.“
„Danke, damit geht es mir schon besser. Meine Eltern haben sich ziemlich aufgeregt. Wenn mich die Cops noch einmal nach Hause bringen, bin ich Toast. Schwarzer, verkohlter Der-Hebel-klemmt-Toast.“
„Wir müssen dafür sorgen, dass das nicht passiert“, sagte Dess.
„Ich trau mich fast nicht zu fragen, aber habt ihr schon einen Plan? Wie ihr mich zur Schlangengrube rausbringt?“
„Kannst es einfach nicht abwarten, was?“, sagte Dess lächelnd. „Wir arbeiten noch dran. Zu blöd, dass du nicht zu der Party am Rustle’s Bottom kommen kannst.“
Jessica runzelte die Stirn. Sie mochte Constanza zwar wirklich gern, aber diese Party war nicht unbedingt ihr Fall. „Warum?“
„Schlangengrube heißt der tiefste Punkt am Seegrund. Du wärst in fünf Minuten hingelaufen. Und ich habe so ein Gefühl, dass die Party mindestens bis Mitternacht geht. Bist du sicher, dass du deine Eltern nicht überreden kannst, bei dieser Hausarrest-Sache eine Ausnahme zu machen?“
„Ganz sicher.“
„Wirklich blöd.“ Dess lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Na gut, auf zu angenehmeren Themen.“
„Was schlägst du vor? Zahnwurzeln ziehen zum Beispiel?“
„Nö, Trigonometrie zum Beispiel.“
Nach der Schule wartete Jessica draußen auf ihren Vater. Dad holte sie bis auf weiteres ab, denn er vertrat die Theorie, sie könnte sich verlaufen und/oder auf dem Heimweg verhaftet werden. Das arbeitslose Familienmitglied hatte nichts Besseres zu tun, als sich Sorgen zu machen oder zu übertreiben. Natürlich würde er zu spät kommen, weil er vorher an der Bixby Junior High fast am anderen Ende der Stadt halten musste. Beth war nicht bereit, mit dem Bus zu fahren, solange ihre Verbrecherschwester durch die Gegend chauffiert wurde.
Schülerhorden quollen aus der Highschool, die alle ein letztes Mal zu ihr hinübersahen. Jessica war begeistert, dass jeder noch eine letzte Chance bekam, das neue böse Mädchen der Stadt anzugaffen. Es würde eine Weile dauern, bis sie wieder gaffen durften. Morgen früh zum Beispiel.
Bei ein paar Neuntklässlern gaffte sie zurück, die daraufhin zusammenzuckten und zum Bus rannten. Ein Tag ihres Hausarrests mit öffentlicher Demütigung war vergangen, und Jessica Day hatte schon genug.
Sie hatte nicht darum gebeten, Midnighter zu werden, war nicht absichtlich in Schwierigkeiten geraten. Soweit sie wusste, hatte sie einen großen Fehler begangen, und der war, dass sie nicht stehen geblieben war, um den Darklingen zu erklären, dass es in Bixby eine Sperrstunde gab. Tausend Mal hatte sie sich an diesem Tag ausgemalt, wie die Darklinge sie erwischen würden und ihr geschundener Körper ihren Eltern mit einem Abschiedsbrief präsentiert wurde:
Mom und Dad ,
konnte wegen der Sperrstunde nicht
um mein Leben rennen.
Tot, aber nicht mehr eingesperrt.
Jess
Sie bastelte an einer weiteren, ironischeren Alternative, als sie hinter sich eine Stimme hörte.
„Jess?“
Sie drehte sich um. Es war Jonathan.
„Du bist … frei?“ Sie spürte, wie sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
Er lachte. „Stimmt. Gutes Benehmen.“
„Tut mir leid. Ich meine, schön, dich zu sehen.“ Sie trat einen Schritt vor.
„Dich auch.“
Der Schullärm schien für kurze Zeit um sie herum zu verebben, als ob die blaue Zeit plötzlich mitten am Tag eingetreten wäre. Diesmal wusste Jessica, dass sie nicht träumte.
Sie sah
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