Die Erzaehlungen 1900-1906
urteilen und so selbständig zu leben schien, hatte ihr Vater eine unbeschränkte Macht, und ich fühlte, daß ihre wahre innere Natur nicht ungestraft durch den väterlichen Einfluß, wenn auch in Liebe, von früh auf unterdrückt und in andere Formen gezwungen worden war. Wenn ich
sie beide beisammen sah, was freilich sehr selten vorkam, glaubte ich diesen vielleicht ungewollt tyrannischen Einfluß mitzufühlen und hatte die unklare Empfindung, es müsse zwischen ihnen einmal einen zähen und tödlichen
Kampf geben. Wenn ich aber dachte, daß dies vielleicht einmal um mich ge-
schehen könne, schlug mir das Herz, und ich konnte ein leises Grauen nicht
unterdrücken.
Machte meine Freundschaft mit Herrn Lampart keine Fortschritte, so gedieh
mein Verkehr mit Gustav Becker, dem Verwalter des Rippacher Hofes, desto
erfreulicher. Wir hatten sogar vor kurzem, nach stundenlangen Gesprächen,
Brüderschaft getrunken, und ich war nicht wenig stolz darauf, trotz der ent-
schiedenen Mißbilligung meines Vetters. Becker war ein studierter Mann, viel-171
leicht zweiunddreißig alt, und ein gewiegter, schlauer Patron. Von ihm beleidigte es mich nicht, daß er meine schönen Mannesworte meistens mit einem
ironischen Lächeln anhörte, denn ich sah ihn mit dem gleichen Lächeln viel
älteren und würdigeren Leuten aufwarten. Er konnte es sich erlauben, denn
er war nicht nur der selbständige Verwalter und vielleicht künftige Käufer des größten Gutes in der Gegend, sondern auch innerlich den meisten Existenzen
seiner Umgebung stark überlegen. Man nannte ihn anerkennend einen höllisch
gescheiten Kerl, aber sehr lieb hatte man ihn nicht. Ich bildete mir ein, er fühle sich von den Leuten gemieden und gebe sich deshalb so viel mit mir ab.
Freilich brachte er mich oft zur Verzweiflung. Meine Sätze über das Leben
und die Menschen machte er häufig ohne Worte, bloß durch ein grausam aus-
drucksvolles Grinsen, mir selber zweifelhaft, und manchmal wagte er es direkt, jede Art von Weltweisheit für etwas Lächerliches zu erklären.
Eines Abends saß ich mit Gustav Becker im Adlergarten bei einem Glas Bier.
Wir saßen an einem Tisch gegen die Wiese hin ungestört und ganz allein.
Es war so ein trockener, heißer Abend, wo alles voll von goldenem Staub
ist, der Lindenduft war fast betäubend, und das Licht schien weder zu- noch
abzunehmen.
Du, du kennst doch den Marmorsäger drüben im Sattelbachtal?
fragte
ich meinen Freund.
Er sah nicht vom Pfeifenstopfen auf und nickte nur.
Ja, sag mal, was ist nun das für ein Mensch?
Becker lachte und stieß die Pfeifenpatrone in die Westentasche.
Ein ganz gescheiter Mann ist er , sagte er dann.
Darum hält er auch
immer das Maul. Was geht er dich an?
Nichts, ich dachte nur so. Er macht doch einen besonderen Eindruck.
Das tun gescheite Leute immer; es gibt nicht so viele.
Sonst nichts? Weißt du nichts über ihn?
Er hat ein schönes Mädel.
Ja. Das mein ich nicht. Warum kommt er nie zu Leuten?
Was soll er dort?
Ach, einerlei. Ich denke, vielleicht hat er was Besonderes erlebt, oder so.
Aha, so was Romantisches? Stille Mühle im Tal? Marmor? Schweigsamer
Eremit? Begrabenes Lebensglück? Tut mir leid, aber damit ist’s nichts. Er ist ein vorzüglicher Geschäftsmann.
Weißt du das?
Er hat’s hinter den Ohren. Der Mann macht Geld.
Da mußte er gehen. Es gab noch zu tun. Er zahlte sein Bier und ging direkt
über die gemähte Wiese, und als er hinter dem nächsten Bühel schon eine
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Weile verschwunden war, kam noch ein langer Strich Pfeifenrauch von dorther, denn Becker lief gegen den Wind. Im Stall fingen die Kühe satt und langsam
zu brüllen an, auf der Dorfstraße tauchten die ersten Feierabendgestalten auf, und als ich nach einer kleinen Weile um mich schaute, waren die Berge schon
blauschwarz, und der Himmel war nicht mehr rot, sondern grünlichblau und
sah aus, als müßte jeden Augenblick der erste Stern herauskommen.
Das kurze Gespräch mit dem Verwalter hatte meinem Denkerstolz einen
leisen Tritt versetzt, und da es so ein schöner Abend und doch schon ein Loch in meinem Selbstbewußtsein war, kam meine Liebe zu der Marmormüllerin
plötzlich über mich und ließ mich fühlen, daß mit Leidenschaften nicht zu
spielen sei. Ich trank noch manche Halbe aus, und als nun wirklich die Sterne heraus waren und als von der Gasse so ein rührendes Volkslied herüberklang,
da hatte ich meine Weisheit und meinen Hut auf der Bank liegen lassen,
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