Die Erzaehlungen 1900-1906
in fremden Räumen, bis eine seltsame, süße Wärme mich
wohlig durchdrang und die große, kräftige Gestalt Helenes vor meinen Gedan-
ken stand. Da kam ich zu mir, fand mich weit unten im Tal bei anbrechender
Dämmerung und eilte nun schnell und freudig zurück.
Sie wartete schon, ließ mich durch Haustor und Stubentür ein, da setzten
wir uns beide auf den Tischrand, hielten unsre Hände ineinander und sprachen kein Wort. Es war lau und dunkel, ein Fenster stand offen, in dessen Höhe
über dem Bergwald ein schmaler Strich des blassen Himmels schimmerte, von
spitzigen Tannenkronen schwarz durchschnitten. Wir spielten jedes mit des
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andern Fingern, und mich überlief bei jedem leichten Druck ein Schauer von
Glück.
Helene!
Ja?
O du!
Und unsere Finger tasteten aneinander, bis sie stille wurden und ruhig inein-anderlagen. Ich schaute auf den bleichen Himmelsspalt, und nach einer Zeit,
als ich mich umwandte, sah ich auch sie dorthin blicken und sah mitten im
Dunkel ein schwaches Licht von dorther in ihren Augen und in zwei großen,
unbeweglich an ihren Lidern hängenden Tränen widerglänzen. Die küßte ich
langsam hinweg und wunderte mich, wie kühl und salzig sie schmeckten. Da
zog sie mich an sich, küßte mich lang und mächtig und stand auf.
Es ist Zeit. Jetzt mußt du gehen.
Und als wir unter der Tür standen, küßte sie mich plötzlich noch einmal mit
heftiger Leidenschaft, und dann zitterte sie so, daß es auch mich schüttelte, und sagte mit einer kaum mehr hörbaren, erstickenden Stimme:
Geh, geh! Hörst du, geh jetzt!
Und als ich draußen stand:
Adieu, du!
Komm nimmer, komm nicht wieder! Adieu!
Ehe ich etwas sagen konnte, hatte sie die Tür zugezogen. Mir war bang und
unklar ums Herz, doch überwog mein großes Glücksgefühl, das mich auf dem
Heimweg wie ein Flügelbrausen umgab. Ich ging mit schallenden Tritten, ohne
es doch zu spüren, und daheim tat ich die Kleider ab und legte mich im Hemd
ins Fenster.
So eine Nacht möchte ich noch einmal haben. Der laue Wind tat mir wie eine
Mutterhand; vor dem hochgelegenen Fensterchen flüsterten und dunkelten die
großen, runden Kastanienbäume, ein leichter Felderduft wehte hin und wieder
durch die Nacht, und in der Ferne flog das Wetterleuchten golden zitternd
über den schweren Himmel. Ein leises fernes Donnern tönte je und je herüber, schwach und von fremdartigem Klang, als ob irgendwo, weit weg die Wälder
und Berge im Schlafe sich regten und schwere, müde Traumworte lallten. Das
alles sah und hörte ich wie ein König von meiner hohen Glücksburg herab,
es gehörte mir und war nur da, um meiner tiefen Lust ein schöner Rastort
zu sein. Mein Wesen atmete in Wonne auf und verlor sich wie ein Liebes-
vers hinströmend und doch unerschöpft in die Nachtweite über das schlafende
Land, an die ferne leuchtenden Wolken streifend, von jedem aus der Schwärze
sich wölbenden Baum und von jedem matten Hügelfirst wie von Liebeshänden
berührt. Es ist nichts, um es mit Worten zu sagen, aber es lebt noch unver-
loren in mir weiter, und ich könnte, wenn es dafür eine Sprache gäbe, jede
in die Dunkelheit verlaufende Bodenwelle, jedes Wipfelgeräusch, die Adern
der entfernten Blitze und den geheimen Rhythmus des Donners noch genau
beschreiben.
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Nein, ich kann es nicht beschreiben. Das Schönste und Innerlichste und
Köstlichste kann man ja nicht sagen. Aber ich wollte, jene Nacht käme mir
noch einmal wieder.
Wenn ich vom Verwalter Becker nicht schon Abschied genommen hätte,
wäre ich gewiß am folgenden Morgen zu ihm gegangen. Stattdessen trieb ich
mich im Dorf herum und schrieb dann einen langen Brief an Helene. Ich mel-
dete mich auf den Abend an und machte ihr eine Menge Vorschläge, setzte
ihr genau und ernsthaft meine Umstände und Aussichten auseinander und
fragte, ob sie es für gut halte, daß ich gleich mit ihrem Vater rede, oder ob wir damit noch warten wollten, bis ich der in Aussicht stehenden Anstellung
und damit der nächsten Zukunft sicher wäre. Und abends ging ich zu ihr. Der
Vater war wieder nicht da; es war seit einigen Tagen einer seiner Lieferanten in der Gegend, der ihn in Anspruch nahm.
Ich küßte meinen schönen Schatz, zog ihn in die Stube und fragte nach
meinem Brief. Ja, sie hatte ihn erhalten. Und was sie denn darüber denke?
Sie schwieg und sah mich flehentlich an, und da ich in sie drang, legte sie
mir die Hand auf den Mund, küßte mich auf die Stirn und
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