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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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wieder aufsteckte, mir mit dem
    Finger drohte und rief:
    Jeden Augenblick kann der Vater kommen. Sind wir
    Kindsköpfe!
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    Ich bekam noch einen Kuß und noch einen und aus dem Strauß vom Fen-
    stersims eine Resede an den Hut. Es ging gegen den Abend, und da es Samstag
    war, fand ich im Adler allerlei Gesellschaft, trank einen Schoppen, schob eine Partie Kegel mit und ging dann zeitig heim. Dort holte ich den Gehrock aus
    dem Schrank, hängte ihn über die Stuhllehne und betrachtete ihn mit Wohl-
    gefallen. Er war so gut wie neu, seinerzeit zum Examen gekauft und seither
    fast nie getragen. Das schwarze, glänzende Tuch erweckte lauter feierliche und würdevolle Gedanken in mir. Statt ins Bett zu gehen, setzte ich mich hin und überlegte, was ich morgen Helenens Vater zu sagen hätte. Genau und deutlich stellte ich mir vor, wie ich vor ihn treten würde, bescheiden und doch
    mit Würde, malte mir seine Einwände, meine Erwiderungen, ja auch seine
    und meine Gedanken und Gebärden aus. Ich sprach sogar laut, wie ein sich
    übender Prediger, und machte die nötigen Gesten dazu, und noch als ich schon im Bett lag und nahe am Einschlafen war, deklamierte ich einzelne Sätze aus
    der mutmaßlichen Unterredung von morgen her.
    Dann war es Sonntagmorgen. Ich blieb, um nochmals in Ruhe nachzuden-
    ken, im Bett liegen, bis die Kirchenglocken läuteten. Während der Kirchzeit
    zog ich mein Staatskleid an, mindestens so umständlich und peinlich wie da-
    mals vor dem Examen, rasierte mich, trank meine Morgenmilch und hatte
    Herzklopfen. Unruhig wartete ich, bis der Gottesdienst aus war, und schritt, als kaum das Ausläuten vertönt hatte, langsam und ernsthaft und die staubigen Wegstellen vermeidend, durch den schon heißen, dunstigen Vormittag
    die Straße zum Sattelbach und talabwärts meinem Ziel entgegen. Trotz mei-
    ner Behutsamkeit geriet ich in dem Gehrock und hohen Kragen in ein leises
    Schwitzen.
    Als ich die Marmorsäge erreichte, standen im Weg und auf dem Hofe zu
    meinem Erstaunen und Unbehagen einige Leute aus dem Dorf herum, auf
    irgend etwas wartend und in kleinen Gruppen leise redend, wie etwa bei einer Gant.
    Doch mochte ich niemand fragen, was das bedeute, und ging an den Leuten
    vorbei zur Haustür, verwundert und beklommen wie in einem ängstlich son-
    derbaren Traum. Eintretend stieß ich in dem Flur auf den Verwalter Becker,
    den ich kurz und verlegen grüßte. Es war mir peinlich, ihn da zu treffen, da er doch glauben mußte, ich sei längst abgereist. Doch schien er daran nimmer zu denken. Er sah angestrengt und müde aus, auch blaß.
    So, kommst du auch?
    sagte er nickend und mit ziemlich bissiger Stimme.
    Ich fürchte, Teuerster, du bist heute hier entbehrlich.
    Herr Lampart ist doch da?
    fragte ich dagegen.
    Jawohl, wo soll er sonst sein?
    Und das Fräulein?
    Er deutete auf die Stubentür.
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    Da drinnen?
    Becker nickte und ich wollte eben anklopfen, als die Tür aufging und ein
    Mann herauskam. Dabei sah ich, daß mehrere Besucher in dem Zimmer her-
    umstanden und daß die Möbel teilweise umgestellt waren.
    Jetzt wurde ich stutzig.
    Becker, du, was ist hier geschehen? Was wollen die Leute? Und du, warum
    bist du hier?
    Der Verwalter drehte sich um und sah mich sonderbar an.
    Weißt du’s denn nicht?
    fragte er mit veränderter Stimme.
    Was denn? Nein.
    Er stellte sich vor mich hin und sah mir ins Gesicht.
    Dann geh nur wieder heim, Junge , sagte er leise und fast weich und legte
    mir die Hand auf den Arm. Mir stieg im Hals ein Würgen auf, eine namenlose
    Angst flog mir durch alle Glieder.
    Und Becker sah mich noch einmal so merkwürdig prüfend an. Dann fragte
    er leise:
    Hast du gestern mit dem Mädchen gesprochen?
    Und als ich rot
    wurde, hustete er gewaltsam, es klang aber wie ein Stöhnen.
    Was ist mit Helene? Wo ist sie?
    schrie ich angstvoll heraus.
    Becker ging auf und ab und schien mich vergessen zu haben. Ich lehnte
    am Pfosten des Treppengeländers und fühlte mich von fremden, blutlosen
    Gestalten beengend und höhnisch umflattert. Nun ging Becker wieder an mir
    vorbei, sagte:
    Komm!
    und stieg die Treppe hinauf, bis wo sie eine Biegung
    machte. Dort setzte er sich auf eine Stufe, und ich setzte mich neben ihn,
    meinen Gehrock rücksichtslos zerknitternd. Einen Augenblick war es totenstill im ganzen Haus, dann fing Becker zu sprechen an.
    Nimm dein Herz in die Hand und beiß auf die Zähne, Kleiner. Also die
    Helene Lampart ist tot, und zwar haben wir sie heut morgen vor der

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