Die Erzaehlungen 1900-1906
gescheit, du Kind!
Und dann brach sie plötzlich aus:
Versteh doch, du, und bring mich nicht
um! – Jetzt kann ich noch, wie ich will. Aber wenn du mich noch einmal
anrührst – ich halte das nimmer aus . . . Ich kann dir keinen Kuß mehr geben, sonst gehen wir alle verloren.
Einen Augenblick war alles still, so still, daß man im Haus drüben den Vater auf und ab gehen hörte.
Ich kann heute nichts entscheiden , war meine Antwort.
Willst du mir
nicht noch sagen – wer es ist?
Der andere? Nein, es ist besser, du weißt es nicht. Oh, komm jetzt nicht
wieder – mir zulieb!
Sie ging ins Haus, und ich sah ihr nach. Ich wollte fortgehen, vergaß es aber und setzte mich auf die kühlen weißen Steine, hörte dem Wasser zu und fühlte nichts als ein Gleiten, Gleiten und Hinwegströmen ohne Ende. Es war, als liefe mein Leben und Helenens Leben und viele ungezählte Schicksale an mir vorbei
dahin, schluchtabwärts ins Dunkle, gleichgültig und wortlos wie Wasser. Wie
Wasser . . .
Spät und todmüde kam ich nach Haus, schlief und stand am Morgen wieder
auf, beschloß, den Koffer zu packen, vergaß es wieder und schlenderte nach
dem Frühstück in den Wald. Es wurde kein Gedanke in mir fertig, sie stiegen
nur wie Blasen aus einem stillen Wasser in mir auf und platzten und waren
nichts mehr, sobald sie sichtbar geworden waren.
Also jetzt ist alles aus, dachte ich hier und da, aber es war kein Bild, keine Vorstellung dabei; es war nur ein Wort, ich konnte dazu aufatmen und mit
dem Kopf nicken, war aber so klug wie vorher.
Erst im Verlauf des Nachmittags wachten die Liebe und das Elend in mir
auf und drohten mich zu überwältigen. Auch dieser Zustand war kein Boden
für gute und klare Gedanken, und statt mich zu zwingen und eine besonnene
Stunde abzuwarten, ließ ich mich fortreißen und legte mich in der Nähe des
Marmorwerks auf die Lauer, bis ich den Herrn Lampart das Haus verlassen
und talaufwärts auf der Landstraße gegen das Dorf hin verschwinden sah.
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Da ging ich hinüber.
Als ich eintrat, schrie Helene auf und sah mich tief verwundet an.
Warum?
stöhnte sie.
Warum noch einmal?
Ich war ratlos und beschämt und bin mir nie so jämmerlich vorgekommen
wie da. Die Tür hatte ich noch in der Hand, aber es ließ mich nicht fort, so ging ich langsam zu ihr hin, die mich mit angstvollen, leidenden Blicken ansah.
Verzeih, Helene , sagte ich nun.
Sie nickte vielemal, blickte zu Boden und wieder auf, wiederholte immer:
Warum? O du! O du!
In Gesicht und Gebärden schien sie älter und reifer
und mächtiger geworden zu sein, ich erschien mir daneben fast wie ein Knabe.
Nun, also?
fragte sie schließlich und versuchte zu lächeln.
Sag mir noch etwas , bat ich beklommen,
damit ich gehen kann.
Ihr Gesicht zuckte, ich glaubte, sie würde jetzt in Tränen ausbrechen. Aber
da lächelte sie unversehens, ich kann nicht sagen wie weich und aus Qualen
heraus, und richtete sich auf und sagte ganz flüsternd:
Komm doch, warum
stehst du so steif da!
Und ich tat einen Schritt und nahm sie in die Arme.
Wir hielten uns mit allen Kräften umklammert, und während bei mir die Lust
sich immer mehr mit Bangigkeit und Schrecken und verhaltenem Schluchzen
mischte, wurde sie zusehends heiter, streichelte mich wie ein Kind, nannte mich mit phantastischen Kosenamen, biß mich in die Hand und war erfinderisch
in kleinen Liebestorheiten. In mir kämpfte ein tiefes Angstgefühl gegen die
treibende Leidenschaft, ich fand keine Worte und hielt Helene an mich gezogen, während sie mich mutwillig und schließlich lachend liebkoste und neckte.
Sei doch ein bißchen froh, du Eiszapfen!
rief sie mir zu und zog mich am
Schnurrbart.
Und ich fragte ängstlich:
Ja, glaubst du jetzt, daß es doch noch gut wird?
Wenn du doch nicht mir gehören kannst –.
Sie faßte meinen Kopf mit ihren beiden Händen, sah mir ganz nah ins
Gesicht und sagte:
Ja, nun wird alles gut.
Dann darf ich hierbleiben und morgen wiederkommen und mit deinem
Vater sprechen?
Ja, dummer Bub, das darfst du alles. Du darfst sogar im Gehrock kommen,
wenn du einen hast. Morgen ist sowieso Sonntag.
Jawohl, ich hab einen , lachte ich und war auf einmal so kindisch froh,
daß ich sie mitriß und ein paarmal mit ihr durch das Zimmer walzte. Dann
strandeten wir an der Tischecke, ich hob sie auf meinen Schoß, sie legte die Stirn an meine Wange, und ich spielte mit ihrem dunkeln, dicken Haar, bis
sie aufsprang und zurücktrat und ihr Haar
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