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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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machte der Verwalter gar keine Witze. Er schlug
    mir auf die Schulter, lächelte fast mitleidig und sagte:
    So, so. Ja, dann geh
    in Gottes Namen, Junge!
    Und als ich schon unter der Tür war, zog er mich noch einmal in die Stube
    zurück und sagte:
    Du, hör mal, du tust mir leid. Aber daß das mit dem
    Mädel nichts werden würde, hab ich gleich gewußt. Du hast da so je und je
    deine Weisheitssprüche verzapft – halte dich jetzt dran und bleib im Sattel, wenn dir auch der Schädel brummt!
    Das war vor Mittag.
    Den Nachmittag saß ich im Moos am Abhang, steil über der Sattelbach-
    schlucht, und schaute auf den Bach und die Werke und auch auf das Lampart-
    sche Haus hinunter. Ich ließ mir Zeit, Abschied zu nehmen und zu träumen
    und nachzudenken, namentlich über das, was Becker mir gesagt hatte. Mit
    Schmerzen sah ich die Schlucht und die paar Dächer unten liegen, den Bach
    glänzen und die weiße Fahrstraße im leichten Winde stäuben; ich bedachte,
    daß ich nun für eine lange Zeit nicht hierher zurückkommen würde, während
    hier Bach und Mühlwerke und Menschen ihren stetigen Lauf weitergingen.
    Vielleicht wird Helene einmal ihre Resignation und Schicksalsruhe wegwerfen
    und ihrem inneren Verlangen nach ein kräftiges Glück oder Leid ergreifen und sich daran sättigen? Vielleicht, wer weiß, wird auch mein eigener Weg noch
    einmal sich aus Schluchten und Talgewirre hervorwinden und in ein klares,
    weites Land der Ruhe führen? – Wer weiß?
    Ich glaubte nicht daran. Mich hatte zum erstenmal eine echte Leidenschaft
    in die Arme genommen, und ich wußte keine Macht in mir stark und edel
    genug, sie zu besiegen.
    Es kam mir der Gedanke, lieber abzureisen, ohne noch einmal mit Helene
    zu sprechen. Das war gewiß das beste. Ich nickte ihrem Haus und Garten zu,
    beschloß, sie nicht mehr sehen zu wollen, und blieb Abschied nehmend bis
    gegen den Abend in der Höhe liegen.
    Träumerisch ging ich weg, waldabwärts, oft in der Steile strauchelnd, und
    erwachte erst mit heftigem Erschrecken aus meiner Versunkenheit, als meine
    Schritte auf den Marmorsplittern des Hofes krachten und ich mich vor der Tür stehen fand, die ich nicht mehr hatte sehen und anrühren wollen. Nun war es
    zu spät.
    Ohne zu wissen, wie ich hereingekommen war, saß ich dann innen in der
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    Dämmerung am Tisch, und Helene saß mir gegenüber, mit dem Rücken ge-
    gen das Fenster, schwieg und sah in die Stube hinein. Es kam mir vor, ich
    sitze schon lange so da und habe schon stundenlang gehockt und geschwiegen.
    Und indem ich jetzt aufschrak, kam mir plötzlich zum Bewußtsein, es sei das
    letztemal.
    Ja , sagte ich,
    ich bin nun am Adieusagen. Meine Ferien sind aus.
    Ach?
    Und wieder war alles still. Man hörte die Arbeiter im Schuppen hantieren,
    auf der Straße fuhr ein Lastwagen langsam vorbei, und ich horchte ihm nach,
    bis er um die Biegung war und verklang. Ich hätte gern dem Wagen noch
    lange, lange nachgelauscht. Nun riß es mich vom Stuhl auf, ich wollte gehen.
    Ich trat zum Fenster hinüber. Auch sie stand auf und sah mich an. Ihr Blick
    war fest und ernst und wich mir eine ganze lange Weile nicht aus.
    Wissen Sie nimmer , sagte ich,
    damals im Garten?
    Ja, ich weiß.
    Helene, damals meinte ich, Sie hätten mich lieb. Und jetzt muß ich gehen.
    Sie nahm meine ausgestreckte Hand und zog mich ans Fenster.
    Lassen Sie sich noch einmal ansehen , sagte sie und bog mit der linken
    Hand mein Gesicht in die Höhe. Dann näherte sie ihre Augen den meinen und
    sah mich seltsam fest und steinern an. Und da mir nun ihr Gesicht so nahe
    war, konnte ich nicht anders und legte meinen Mund auf ihren. Da schloß sie
    die Augen und gab mir den Kuß zurück, und ich legte den Arm um sie, zog
    sie fest an mich und fragte leise:
    Schatz, warum erst heut?
    Nicht reden!
    sagte sie.
    Geh jetzt fort und komm in einer Stunde wieder.
    Ich muß drüben nach den Leuten sehen. Der Vater ist heut nicht da.
    Ich ging und schritt davon, talabwärts durch unbekannte, merkwürdige Ge-
    genden, zwischen blendend lichten Wolkenbildern, hörte nur wie im Traum zu-
    weilen den Sattelbach rauschen und dachte an lauter ganz entfernte, wesenlose Dinge – an kleine drollige oder rührende Szenen aus meiner Kleinkinderzeit
    und dergleichen Geschichten, die aus den Wolken heraus mit halbem Umriß
    erstanden und, ehe ich sie ganz erkennen konnte, wieder untergingen. Ich sang auch im Gehen ein Lied vor mich hin, aber es war ein gewöhnlicher Gassen-hauer. So irrte ich

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