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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Handwerker untergebracht gewesen, wo er
    es gut hatte und mit zur Familie zählte. Dieser Handwerker war nun gestor-
    ben, und da der Pflegling nicht zur Erbschaft mitgerechnet werden konnte,
    mußte ihn jetzt der Spittel übernehmen. Er hielt seinen Einzug mit einem
    wohlgefüllten Leinwandsäcklein, einem ungeheuren blauen Regenschirm und
    einem grünbemalten Holzkäfig, darin saß ein sehr feister Sperling und ließ
    sich durch den Umzug wenig aufregen. Der Holdria kam lächelnd, herzlich
    und strahlend, schüttelte jedermann die Hand, sprach kein Wort und fragte
    nach nichts, glänzte vor Wonne und Herzensgüte, sooft jemand ihn anredete
    oder ansah, und hätte, auch wenn er nicht schon längst eine überall bekannte Figur gewesen wäre, es keine Viertelstunde lang verbergen können, daß er ein ungefährlicher Schwachsinniger war.
    Der zweite, der etwa eine Woche später seinen Einzug hielt, kam nicht min-
    der lebensfroh und wohlwollend daher, war aber keineswegs schwach im Kopfe,
    sondern ein zwar harmloser, aber durchtriebener Pfiffikus. Er hieß Stefan Finkenbein und stammte aus der in der ganzen Stadt und Gegend von alters
    her wohlbekannten Landstreicher- und Bettlerdynastie der Finkenbeine, deren
    komplizierte Familie in vielerlei Zweigen in Gerbersau ansässig und anhängig war. Die Finkenbeine waren alle fast ohne Ausnahme helle und lebhafte Köpfe, dennoch hatte es niemals einer von ihnen zu etwas gebracht, denn von ihrem
    ganzen Wesen und Dasein war die Vogelfreiheit und der Humor des Nichtsha-
    bens ganz unzertrennlich.
    Besagter Stefan war noch keine sechzig alt und erfreute sich einer fehler-
    losen Gesundheit. Er war etwas mager und zart von Gliedern, aber zäh und
    stets wohlauf und rüstig, und auf welche schlaue Weise es ihm gelungen war,
    sich bei der Gemeinde als Anwärter auf einen Spittelsitz einzuschmuggeln
    und durchzusetzen, war rätselhaft. Es gab Ältere, Elendere und sogar Ärmere
    genug in der Stadt. Allein seit der Gründung dieser Anstalt hatte es ihm kei-ne Ruhe gelassen, er fühlte sich zum Sonnenbruder geboren und wollte und
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    mußte einer werden. Und nun war er da, ebenso lächelnd und liebenswürdig
    wie der treffliche Holdria, aber mit wesentlich leichterem Gepäck, denn außer dem, was er am Leibe trug, brachte er einzig einen zwar nicht in der Farbe,
    aber doch in der Form wohlerhaltenen steifen Sonntagshut von altväterischer
    Form mit. Wenn er ihn aufsetzte und ein wenig nach hinten rückte, war Stefan Finkenbein ein klassischer Vertreter des Typus Bruder Straubinger. Er führte sich als einen weltgewandten, spaßhaften Gesellschafter ein und wurde, da der Holdria schon in Hürlins Stube gesteckt worden war, beim Seiler Heller untergebracht. Alles schien ihm gut und lobenswert zu sein, nur die Schweigsamkeit seiner Kameraden gefiel ihm nicht. Eine Stunde vor dem Abendessen, als alle
    viere draußen beisammen im Freien saßen, fing der Finkenbein plötzlich an:
    Hör du, Herr Fabrikant, ist das bei euch denn alleweil so trübselig? Ihr seid ja lauter Trauerwedel.
    Ach, laß mich.
    Na, wo fehlt’s denn bei dir? Überhaupt, warum hocken wir alle so fad da
    herum? Man könnte doch wenigstens einen Schnaps trinken, oder nicht?
    Hürlin horchte einen Augenblick entzückt auf und ließ seine müden Äuglein
    glänzen, aber dann schüttelte er verzweifelt den Kopf, drehte seine leeren
    Hosentaschen um und machte ein leidendes Gesicht.
    Ach so, hast kein Moos?
    rief Finkenbein lachend.
    Lieber Gott, ich hab
    immer gedacht, so ein Fabrikant, der hat’s alleweil im Sack herumklimpern.
    Aber heut ist doch mein Antrittsfest, das darf nicht so trocken vorbeigehen.
    Kommt nur, ihr Leute, der Finkenbein hat zur Not schon noch ein paar Ka-
    pitalien im Ziehamlederle.
    Da sprangen die beiden Trauerwedel behend auf die Füße. Den Schwach-
    sinnigen ließen sie sitzen, die drei anderen stolperten im Eilmarsch nach dem Sternen
    und saßen bald auf der Wandbank jeder vor einem Glas Korn.
    Hürlin, der seit Wochen und Monaten keine Wirtsstube mehr von innen ge-
    sehen hatte, kam in die freudigste Aufregung. Er atmete in tiefen Zügen den
    lang entbehrten Dunst des Ortes ein und genoß den Kornschnaps in kleinen,
    sparsamen, scheuen Schlucken. Wie einer, der aus schweren Träumen erwacht
    ist, fühlte er sich dem Leben wiedergeschenkt und von der wohlbekannten
    Umgebung heimatlich angezogen. Er holte die vergessenen kühnen Gesten
    seiner ehemaligen Kneipenzeit eine um die andere wieder

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