Die Erzaehlungen 1900-1906
schoben die nackten
Alten ohne viel Geräusch in der Stube herum, als übten sie einen Tanz, und
jeder war ein Held, und keiner bekam Hiebe. Das ging so lange, bis in einem
günstigen Augenblick dem Fabrikanten seine leere Waschschüssel in die Hand
geriet; er schwang sie wild über sich durch die Luft und ließ sie machtvoll auf den Schädel seines unbewaffneten Feindes herabsausen. Dieser Hauptschlag
mit der Blechschüssel gab einen so kriegerisch schmetternden Klang durchs
ganze Haus, daß sogleich die Türe ging, der Hausvater im Hemd hereintrat
und mit Schimpfen und Lachen vor den Zweikämpfern stehenblieb.
Ihr seid doch die reinen Lausbuben , rief er scharf,
boxt euch da split-
ternackt in der Bude herum, so zwei alte Geißböcke! Packt euch ins Bett, und wenn ich noch einen Ton hör, könnt ihr euch gratulieren.
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Gestohlen hat er
– schrie Hürlin, vor Zorn und Beleidigung fast heulend.
Er ward aber sofort unterbrochen und zur Ruhe verwiesen. Die Geißböcke
zogen sich murrend in ihre Betten zurück, der Stricker horchte noch eine
kleine Weile vor der Türe, und auch als er fort war, blieb in der Stube al-
les still. Neben dem Waschbecken lagen die Trümmer der Zigarre am Boden,
durchs Fenster sah die blasse Spätsommernacht herein, und über den beiden
tödlich ergrimmten Taugenichtsen hing an der Wand von Blumen umrankt
der Spruch:
Kindlein, liebet euch untereinander!
Wenigstens einen kleinen Triumph trug Hürlin am andern Tage aus dieser
Affäre davon. Er weigerte sich standhaft, fernerhin mit dem Seiler nachts die Stube zu teilen, und nach hartnäckigem Widerstand mußte der Stricker sich
dazu verstehen, jenem das andere Stübchen anzuweisen. So war der Fabrikant
wieder zum Einsiedler geworden, und so gerne er die Gesellschaft des Seiler-
meisters los war, machte es ihn doch schwermütig, so daß er zum erstenmal
deutlich spürte, in was für eine hoffnungslose Sackgasse ihn das Schicksal auf seine alten Tage gestoßen hatte.
Das waren keine fröhlichen Vorstellungen. Früher war er, ging es wie es
mochte, doch wenigstens frei gewesen, hatte auch in den elendesten Zeiten
je und je noch ein paar Batzen fürs Wirtshaus gehabt und konnte, wenn er
nur wollte, jeden Tag wieder auf die Wanderschaft gehen. Jetzt aber saß er
da, rechtlos und bevogtet, bekam niemals einen blutigen Batzen zu sehen und
hatte in der Welt nichts mehr vor sich, als vollends alt und mürb zu werden
und zu seiner Zeit sich hinzulegen.
Er begann, was er sonst nie getan hatte, von seiner hohen Warte am Stra-
ßenrain über die Stadt hinweg das Tal hinab und hinauf zu äugen, die weißen
Landstraßen mit dem Blick zu messen und den fliegenden Vögeln und Wol-
ken, den vorbeifahrenden Wagen und den ab- und zugehenden Fußwanderern
mit Sehnsucht nachzublicken. Für die Abende gewöhnte er sich nun sogar das
Lesen an, aber aus den erbaulichen Geschichten der Kalender und frommen
Zeitschriften heraus hob er oft fremd und bedrückt den Blick, erinnerte sich an seine jungen Jahre, an Solingen, an seine Fabrik, ans Zuchthaus, an die
Abende in der ehemaligen
Sonne
und dachte immer wieder daran, daß er
nun allein sei, hoffnungslos allein.
Der Seiler Heller musterte ihn mit bösartigen Seitenblicken, versuchte aber
nach einiger Zeit doch den Verkehr wieder ins Geleise zu bringen. So daß er
etwa gelegentlich, wenn er den Fabrikanten draußen am Ruheplatz antraf, ein
freundliches Gesicht schnitt und ihm zurief:
Schönes Wetter, Hürlin! Das
gibt einen guten Herbst, was meinst?
Aber Hürlin sah ihn nur an, nickte
träg und gab keinen Ton von sich.
Vermutlich hätte sich allmählich trotzdem wieder irgendein Faden zwischen
den Trutzköpfen angesponnen, denn aus seinem Tiefsinn und Gram heraus
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hätte Hürlin doch ums Leben gern nach dem nächsten besten Menschenwesen
gegriffen, um nur das elende Gefühl der Vereinsamung und Leere zeitweise loszuwerden. Der Hausvater, dem des Fabrikanten stilles Schwermüteln gar nicht
gefiel, tat auch, was er konnte, um seine beiden Pfleglinge wieder aneinander zu bringen.
Da rückten kurz hintereinander im Lauf des September zwei neue Ankömm-
linge ein, und zwar zwei sehr verschiedene.
Der eine hieß Louis Kellerhals, doch kannte kein Mensch in der Stadt diesen
Namen, da Louis schon seit Jahrzehnten den Beinamen Holdria trug, dessen
Ursprung unerfindlich ist. Er war, da er schon viele Jahre her der Stadt zur Last fiel, bei einem freundlichen
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