Die Erzaehlungen 1900-1906
nichts mehr an, denn er war sichtlich am Abrüsten und hatte hinter
sich nichts mehr zu suchen.
Das war merkwürdig schnell über ihn gekommen. Zwar war er schon bald
nach seinem Sturze, in den dürftigen Zeiten, da die
Sonne
ihm vertraut zu
werden begann, grau geworden und hatte angefangen, die Beweglichkeit zu
verlieren. Aber er hätte sich noch jahrelang herumschlagen und manches Mal
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das große Wort am Wirtstisch oder auf der Gasse führen können. Es war nur
der Spittel, der ihm in die Knie geschlagen hatte. Als er damals froh gewesen war, ins Asyl zu kommen, hatte er nicht bedacht, daß er sich damit selber
seinen besten Faden abschneide. Denn ohne Projekte und ohne Aussicht auf
allerlei Umtrieb und Spektakel zu leben, dazu hatte er keine Gabe, und daß
er damals der Müdigkeit und dem Hunger nachgegeben und sich zur Ruhe
gesetzt hatte, das war erst sein eigentlicher Bankrott gewesen. Nun blieb ihm nichts mehr, als sein Zeitlein vollends abzuleben.
Es kam dazu, daß Hürlin allzu lange eine Wirtshausexistenz geführt hatte.
Alte Gewohnheiten, auch wenn sie Laster sind, legt ein Grauhaariger nicht
ohne Schaden ab. Die Einsamkeit und die Händel mit Heller halfen mit, ihn
vollends still zu machen, und wenn ein alter Blagueur und Schreier einmal still wird, so ist das schon der halbe Weg zum Kirchhof.
Es war vielerlei, was jetzt an dieser rüden und übel erzogenen Seele zu
rütteln und zu nagen kam, und es zeigte sich, daß sie ungeachtet ihrer früheren Starrheit und Selbstherrlichkeit recht wenig befestigt war. Der Hausvater war der erste, der seinen Zustand erkannte. Zum Stadtpfarrer, als dieser einmal
seinen Besuch machte, sagte er achselzuckend:
Der Hürlin kann einem schier
leid tun. Seit er so drunten ist, zwing ich ihn ja zu keiner Arbeit mehr, aber was hilft’s, das sitzt bei ihm anderwärts. Er sinniert und studiert zu viel, und wenn ich diese Sorte nicht kennen täte, würd ich sagen, ’s ist das schlechte Gewissen und geschieht ihm recht. Aber weit gefehlt! Es frißt ihn von innen, das ist’s, und das hält einer in dem Alter nicht lang aus, wir werden’s sehen.
Auf
das hin saß der Stadtpfarrer ein paarmal beim Fabrikanten auf seiner Stube
neben dem grünen Spatzenkäfig des Holdria und sprach mit ihm vom Leben
und Sterben und versuchte irgendein Licht in seine Finsternis zu bringen, aber vergebens. Hürlin hörte zu oder hörte nicht zu, nickte oder brummte, sprach
aber nichts und wurde immer fahriger und wunderlicher. Von den Witzen des
Finkenbein tat ihm zuzeiten einer gut, dann lachte er leis und trocken, schlug auf den Tisch und nickte billigend, um gleich darauf wieder in sich hinein auf die verworrenen Stimmen zu horchen.
Nach außen zeigte er nur ein stilleres und weinerlich gewordenes Wesen,
und jedermann ging mit ihm um wie sonst. Nur dem Schwachsinnigen, wenn
er eben nicht ohne Verstand gewesen wäre, hätte ein Licht über Hürlins Zu-
stand und Verfall aufgehen können und zugleich ein Grauen. Denn dieser ewig
freundliche und friedfertige Holdria war des Fabrikanten Gesellschafter und
Freund geworden. Sie hockten zusammen vor dem Holzkäfig, streckten dem
fetten Spatzen die Finger hinein und ließen sich picken, lehnten morgens bei dem jetzt langsam herankommenden Winterwetter am geheizten Ofen und sahen einander so verständnisvoll in die Augen, als wären sie zwei Weise. Man
sieht manchmal, daß zwei gemeinsam eingesperrte Waldestiere einander so
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anblicken.
Was am heftigsten an Hürlin zehrte, das war die auf Hellers Anstiften im
Sternen
erfahrene Demütigung und Schande. An dem Wirtstisch, wo er
lange Zeiten fast täglich gesessen war, wo er seine letzten Heller hatte liegen-lassen, wo er ein guter Gast und Wortführer gewesen war, da hatten Wirt
und Gäste mit Gelächter zugesehen, wie er hinausgeworfen wurde. Er hatte es
an den eigenen Knochen erfahren und spüren müssen, daß er nimmer dorthin
gehöre, nimmer mitzähle, daß er vergessen und ausgestrichen war und keinen
Schatten von Recht mehr besaß.
Für jeden anderen bösen Streich hätte er gewiß an Heller bei der ersten
Gelegenheit Rache genommen. Aber diesmal brachte er nicht einmal die ge-
wohnten Schimpfworte, die ihm so locker in der Gurgel saßen, heraus. Was
sollte er ihm sagen? Der Seiler war ja ganz im Recht. Wenn er noch der al-
te Kerl und noch irgend etwas wert wäre, hätte man nicht gewagt, ihn im
Sternen
an die Luft zu setzen. Er war fertig und
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