Die Erzaehlungen 1900-1906
Morgen der Holdria und der auf des Narren ängstliches Geschrei herübergekommene Hausvater. Das Gesicht war ein wenig bläulicher geworden, sonst war wenig daran zu entstellen gewesen.
Schrecken und Überraschung waren nicht klein, aber von sehr kurzer Dauer.
Nur der Schwachsinnige flennte leise in seinen Kaffeetopf hinein, alle anderen 216
wußten oder fühlten, daß dieses Ende nicht zur unrechten Zeit gekommen war
und daß es weder zur Klage noch zur Entrüstung Veranlassung biete. Auch
hatte ihn ja niemand lieb gehabt.
Wie seinerzeit der Finkenbein als vierter Gast in den Spittel gekommen war,
hatte man in der Stadt einige Klagen darüber vernommen, daß das kaum
gegründete Asyl sich so ungehörig rasch bevölkere. Nun war schon einer von
den Überzähligen verschwunden. Und wenn es wahr ist, daß die Armenhäusler
meistens merkwürdig gedeihen und zu hohen Jahren kommen, so ist es doch
ebenso wahr, daß selten ein Loch bleibt, wie es ist, sondern um sich fressen muß. So ging es auch hier; in der kaum erblühten Lumpenkolonie war nun
einmal der Schwund ausgebrochen und wirkte weiter.
Zunächst schien freilich der Fabrikant vergessen und alles beim alten zu
sein, Lukas Heller führte, soweit Finkenbein es zuließ, das große Wort, machte dem Stricker das Leben sauer und wußte von seinem bißchen Arbeit noch die
Hälfte dem willigen Holdria aufzuhalsen. So fühlte er sich wohl und heiter.
Er war nun der älteste von den Sonnenbrüdern, fühlte sich ganz heimisch
und hatte nie in seinem Leben sich so im Einklang mit seiner Umgebung
und Lebensstellung befunden, deren Ruhe und Trägheit ihm Zeit ließ, sich zu
dehnen und zu fühlen und sich als ein achtenswerter und nicht unwesentlicher Teil der Gesellschaft, der Stadt und des Weltganzen vorzukommen.
Anders erging es dem Finkenbein. Das Bild, das seine lebhafte Phantasie
sich einst vom Leben eines Sonnenbruders erdacht und herrlich ausgemalt
hatte, war ganz anders gewesen, als was er in Wirklichkeit hier gefunden und gesehen hatte. Zwar blieb er dem Ansehen nach der alte Leichtfuß und Spaß-
macher, genoß das gute Bett, den warmen Ofen und die reichliche Kost und
schien keinen Mangel zu empfinden. Er brachte auch immer wieder von ge-
heimnisvollen Ausflügen in die Stadt ein paar Nickel für Schnaps und Tabak
mit, an welchen Gütern er den Seiler ohne Geiz teilhaben ließ. Auch fehlte
es ihm selten an einem Zeitvertreib, da er gaßauf, gaßab jedes Gesicht kannte und wohlgelitten war, so daß er in jedem Torgang und vor jeder Ladentüre,
auf Brücke und Steg, neben Lastfuhren und Schiebkarren her jederzeit mit
jedermann sich des Plauderns erfreuen konnte.
Trotzdem aber war ihm nicht recht wohl in seiner Haut. Denn einmal wa-
ren Heller und Holdria als tägliche Kameraden von geringem Wert für ihn,
und dann drückte ihn je länger je mehr die Regelmäßigkeit dieses Lebens, das für Aufstehen, Essen, Arbeiten und Zubettgehen feste Stunden vorschrieb.
Schließlich, und das war die Hauptsache, war dies Leben zu gut und zu be-
quem für ihn. Er war gewohnt, Hungertage mit Schlemmertagen zu wechseln,
bald auf Linnen und bald auf Stroh zu schlafen, bald bewundert und bald
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angeschnauzt zu werden. Er war gewohnt, nach Belieben umherzustreifen, die
Polizei zu fürchten, kleine Geschäfte und Streiche an der Kunkel zu haben
und von jedem lieben Tag etwas Neues zu erwarten. Diese Freiheit, Armut,
Beweglichkeit und beständige Spannung fehlte ihm hier vollkommen, und bald
sah er ein, daß der Eintritt in den Spittel nicht, wie er gemeint hatte, sein Meisterstück, sondern ein dummer Streich mit betrüblichen und lebenslangen
Folgen gewesen war.
Freilich, wenn es in dieser Hinsicht dem Finkenbein wenig anders erging als
vorher dem Fabrikanten, so war er in allem übrigen dessen fertiges Gegen-
teil. Vor allem ließ er den Kopf nicht hängen wie jener und ließ die Gedanken nicht ewig auf demselben leeren Felde der Trauer und Ungenüge grasen, sondern hielt sich munter, ließ die Zukunft möglichst außer Augen und tändelte
sich leichtfüßig von einem Tag in den andern. Er gewann dem Stricker, dem
Simpel, dem Seiler Heller, dem fetten Sperling und der ganzen Sachlage nach
Möglichkeit die fidele Seite ab. Und das tat nicht ihm allein, sondern dem ganzen Hause gut, dessen tägliches Leben durch ihn einen Hauch von Freisinn und Heiterkeit bekam. Den konnte es freilich nötig brauchen, denn zur Erheiterung und Verschönerung
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