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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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konnte einpacken.
    Und nun schaute er vorwärts, die ihm bestimmte schmale und gerade Stra-
    ße, an ungezählten Reihen von leeren Tagen vorbei dem Sterben entgegen. Da
    war alles festgesetzt, angenagelt und vorgeschrieben, selbstverständlich und unerbittlich. Da war nicht die Möglichkeit, eine Bilanz und ein Papierchen
    zu fälschen, sich in eine Aktiengesellschaft zu verwandeln oder sich in Gottes Namen durch Bankrott und Zuchthaus auf Umwegen wieder ins Leben hinein-zuschleichen. Und wenn der Fabrikant auf vielerlei Umstände und Lebenslagen
    eingerichtet war und sich in sie zu finden wußte, so war er doch auf diese nicht eingerichtet und wußte sich nicht in sie zu finden.
    Der gute Finkenbein gab ihm nicht selten ein ermunterndes Wort oder klopf-
    te ihm mit gutmütig tröstendem Lachen auf die Schulter.
    Du, Oberkommerzienrat, studier nicht soviel, du bist allweg gescheit ge-
    nug, hast soviel reiche und gescheite Leut seinerzeit eingeseift, oder nicht? –
    Nicht brummen, Herr Millionär, ’s ist nicht bös gemeint. Ist das ein Spritzigtun
    – Mann Gottes, denk doch an den heiligen Vers über deiner Bettlade.
    Und er breitete mit pastoraler Würde die Arme aus wie zum Segnen und
    sprach mit Salbung:
    Kindlein, liebet euch untereinander!
    Oder paß auf, wir fangen jetzt eine Sparkasse an, und wenn sie voll ist,
    kaufen wir der Stadt ihren schäbigen Spittel ab und tun das Schild raus und
    machen die alte >Sonne< wieder auf, daß Öl in die kranke Maschine kommt.
    Was meinst?
    Fünftausend Mark wenn wir hätten – ,fing Hürlin zu rechnen an, aber da
    lachten die anderen; er brach ab, seufzte und fiel in sein Brüten und Stieren zurück.
    Er hatte die Gewohnheit angenommen, tagaus, tagein in der Stube hin
    und her zu traben, einmal grimmig, einmal angstvoll, ein andermal lauernd
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    und tückisch. Sonst aber störte er niemand. Der Holdria leistete ihm häufig
    Gesellschaft, schloß sich in gleichem Tritt seinen Dauerläufen durchs Zimmer an und beantwortete nach Kräften die Blicke, Gestikulationen und Seufzer des unruhigen Wanderers, der beständig vor dem bösen Geist auf der Flucht war,
    den er doch in sich trug. Wenn er sein Leben lang schwindelhafte Rollen geliebt und mit wechselndem Glück gespielt hatte, so war er nun dazu verurteilt,
    ein trauriges Ende mit seinen hanswurstmäßigen Manieren durchspielen zu
    müssen.
    Zu den Sprüngen und Kapriolen des aus dem Geleise Gekommenen gehörte
    es, daß er neuerdings mehrmals am Tage unter seine Bettstatt kroch, das alte Sonnenschild hervorholte und einen sehnsüchtig närrischen Kultus damit trieb, indem er es bald feierlich vor sich hertrug wie ein heiliges Schaustück, bald vor sich aufpflanzte und mit verzückten Augen betrachtete, bald wütend mit
    Fäusten schlug, um es dann sogleich wieder sorglich zu wiegen, zu liebkosen
    und endlich an seinen Ort zurückzubringen. Als er diese symbolischen Possen
    anfing, verlor er seinen Rest von Kredit bei den Sonnenbrüdern und wurde
    gleich seinem Freunde Holdria als völliger Narr behandelt. Namentlich der
    Seiler sah ihn mit unverhohlener Verachtung an, hänselte und demütigte ihn,
    wo er konnte, und ärgerte sich, daß Hürlin das kaum zu merken schien.
    Einmal nahm er ihm sein Sonnenschild und versteckte es in einer anderen
    Stube. Als Hürlin es holen wollte und nicht fand, irrte er eine Zeit im Haus umher, dann suchte er wiederholt am alten Orte danach, dann bedrohte er der
    Reihe nach alle Hausgenossen, den Stricker nicht ausgenommen, mit machtlos
    wütenden Reden und Lufthieben, und als alles das nichts half, setzte er sich an den Tisch, legte den Kopf in die Hände und brach in ein jammervolles Heulen aus, das eine halbe Stunde dauerte. Das war dem mitleidigen Finkenbein
    zuviel. Er gab dem zu Tod erschreckenden Seiler einen mächtigen Fausthieb
    und zwang ihn, das versteckte Kleinod sogleich herbeizubringen.
    Der zähe Fabrikant hätte trotz seiner fast weiß gewordenen Haare noch man-
    che Jahre leben können. Aber der Wille zum Sterben, der in ihm arbeitete,
    fand bald einen Ausweg. In einer Dezembernacht konnte der alte Mann nicht
    schlafen. Im Bett aufsitzend gab er sich seinen öden Gedanken hin, stierte
    über die dunklen Wände hin und kam sich verlassener vor als je. In Lange-
    weile, Angst und Trostlosigkeit stand er schließlich auf, ohne recht zu wissen, was er tue, nestelte seinen hanfenen Hosenträger los und hängte sich damit
    geräuschlos an der Türangel auf. So fanden ihn im

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