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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Horde strohblonder Kinder zu kämpfen. Beide, Kinder und
    Katzen, entstammten der benachbarten steilen und finstern Armutgasse, wil-
    derten üppig in dem Winkel dort herum, waren nicht auseinander zu kennen
    und so wenig mit Erfolg zu bekriegen wie ein Mückenschwarm. Allmählich wur-
    de also Frau Staudenmeyer des Kämpfens müde und das Gärtlein fiel ganz den
    ungebetenen Gästen anheim. Es wucherten nun auf dem verwahrlosten Platze
    alte Stachelbeerstauden mit einem geilen, niemals Früchte reifenden Erdbeer-
    geschlinge samt vielerlei Unkräutern zu einem grünen Wirrwarr zusammen,
    aus welchem hier und dort ein Rest der ehemaligen Gartenherrlichkeit, etwa
    ein himmelhoch aufgeschossener Salatstock oder eine faustgroße Zwiebelblüte, hervorragte.
    Im Sommer und Herbst, wenn an schönen Tagen abends noch Sonne dort
    hinunter kam und die feuchten Mauern erwärmte, dann erschien gegen sieben
    Uhr der greise Garibaldi im Hof, stieg langsam die schmalen Steinstaffeln zum Gärtchen hinauf und setzte sich auf den ausgetretenen obersten Treppenstein.
    Dort ruhte er schweigend in der schwachen Spätsonne, tat seltene Züge aus
    einer schwarzgebrannten, kurzen Holzpfeife und gab nur, wenn etwa ein Nach-
    bar ihn vom Fenster aus anrief, ein kurzes Wort zurück. Sonst redete er keinen Ton, sondern saß regungslos auf dem schmalen Stein und ruhte und rauchte,
    bis es dunkelte und kühl wurde. Über und unter ihm rumorten die Kinder,
    rauften und zankten miteinander, fraßen unreife Beeren und erfüllten die goldene Abendluft mit Gelächter, Geschrei und Gewimmer. Sie hieben einander
    die Köpfe blutig, stahlen einander das Vesperbrot, fielen über die Mauer her-ab und schrien Mordio. Den Alten berührte es nicht, obwohl er ungezählte
    Enkel und Großneffen unter der Horde hatte. Wenn einmal etwas Besonderes
    los war und das Geschrei zum Gebrüll anwuchs, drehte er den verwitterten
    Kopf vielleicht ein wenig danach hinüber und auf seine schmalen Lippen trat
    für einen flüchtigen Augenblick das kühle, gleichgültige Lächeln, mit welchem er den Lauf’der Ereignisse zu betrachten gewohnt war.
    Er hatte an anderes zu denken als an das kleine Zeug um ihn herum.
    Während sein brauner Daumen die Glut in die Holzpfeife zurückstopfte, ver-
    weilte seine Erinnerung weit von hier, in alten Zeiten und fremden Ländern, in wilden Feldzügen und auf weiten, abenteuerlichen Raubund Wanderfahrten.
    Er sah Höfe und Dörfer in Brand stehen und mit langen, unwilligen Flam-
    men durch die Nacht gen Himmel klagen. Er sah auf verlassenen Straßen und
    auf den Türschwellen verlassener Häuser Erschlagene in schmutzigen Blutla-
    chen liegen, krepierte Pferde und zertrümmerte Wagen, dazwischen herrenlos
    umherirrendes Vieh und verlaufene, weinende Knaben und Mädchen.
    Kam dann etwa eins von seinen strohblonden, verwahrlosten Enkelkindern
    hergelaufen und bettelte:
    Großvater, schenk’ mir was!
    dann streifte er es
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    mit flüchtigem Blick und setzte, ohne eine Antwort zu geben, sein spöttisch
    stilles Lächeln auf, und das Kind lief wieder weg. Er aber hörte schnell wieder auf zu lächeln, zog die Knie ein wenig höher, neigte den grauen Kopf ein wenig weiter vor und blickte wieder in die Länder der Erinnerung, der Abenteuer,
    mit demselben unverwandten, glühenden und auch verschleierten Blick, wel-
    chen die in Käfige gesperrten Raubvögel haben. Über seine hohe, braune Stirn fiel in fahlen Strängen das lange Haar und nichts an der ganzen Gestalt hatte Leben und bewegte sich als der schmale, alte Mund, der zuweilen eine dünne
    Rauchfahne hinausblies, und als sein hagerer Schatten, der über die Mauer
    hinab und langsam über den ganzen Hof wanderte, immer länger und phanta-
    stischer und immer wesenloser werdend, bis er in die allgemeine Dämmerung
    untertauchte.
    So im Dunkelwerden war es mir eine grausige Lust, vom Fenster meiner
    Knabenkammer aus den Garibaldi dasitzen zu sehen, von Haar und Bart um-
    filzt, aufrecht und bewegungslos, mit geisterhaft undeutlichen Zügen, bis sein Gesicht vollständig in das Dunkel versank und nur noch die Silhouette eines
    sitzenden Riesen übrig blieb, hin und wieder von einer spärlichen Rauchwol-
    ke umflogen. Die vielen Kinder waren um diese Zeit nicht mehr da, von der
    überdachten Gartenseite her wuchs die Finsternis heran, die uraltmodisch ge-
    schweiften Giebel und krummen Dächer all der Armenhäuser standen schwarz
    in den noch lichten Himmel, da und dort glühte ein

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