Die Erzaehlungen 1900-1906
eine heroische Luft, dann war
es jedesmal ein Erlebnis und eine Freude, ihm zu begegnen. Meine Mutter
wünschte stets unter Menschen und Sachen zu leben, deren Anblick ihr je-
desmal ein Erlebnis und eine Freude war. So nannte sie den alten Nachbarn
Garibaldi.
Ich kleiner Bub wußte vom wahren, historischen Garibaldi, dessen Bild und
Taten meiner Mutter wohl bekannt waren, damals noch kein Wort. Aber der
stattliche welsche Name machte mir großen Eindruck und hüllte den Schorsch
Großjohann wie eine sagenhafte Wunderwolke ein.
So weit war Garibaldi die Schöpfung meiner Mutter. Ohne davon eine Ah-
nung zu haben, dichtete ich nun an ihm weiter und machte ihn zu einem seltsamen Helden, dessen Leben ich mitlebte und dessen Schicksale mich wie eigene
Schicksale bewegten, ohne daß ich je ein Wort mit ihm gesprochen hätte. Fast jeden Tag sah ich ihn ein oder zweimal in seiner Tätigkeit, außerdem abends
im Hof oder hinter den niederen Fensterchen seiner Wohnung.
Er war damals schon bald siebzig und, wenn man auf Kleidung und Reinlich-
keit nicht allzu streng achten wollte, ein schöner Greis. Das Kriegerische, das er an sich hatte, bestand neben der großen, sehnigen Gestalt hauptsächlich
in der braunen Gesichtsfarbe und in dem langen, gelblichgrauen, stark ver-
wilderten Haar und Bart. Wenn man das Gesicht genauer anschaute und mit
dem äußeren Wesen und Lebenswandel des alten Mannes zusammenhielt, kam
eher ein milder Charakter heraus. Mund und Nase zwar waren fest, scharf und
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schneidig geformt, aber die große stille Stirn wies weder Narben noch tiefe Falten auf, sondern glich etwa einer abendlichen Straße, auf welcher das Leben
vollends eindämmert oder wo Wanderer, Wagen und Rosse, das sind Gedan-
ken, Hoffnungen und Leidenschaften, schon so lange vorübergebraust und ge-
fahren sind, daß ihre Spuren sich wieder zu glätten beginnen. Dies bestätigten auch die hellgrauen Augen. Sie waren noch klar und scharf und saßen klein
und wachsam über der braunen Hakennase, aber der Blick zeigte eine etwas
müde Ruhe, als suche er in diesen späten Tagen auf Erden keine Ziele mehr.
Schön und merkwürdig war in diesem gefestigten und stillgewordenen An-
gesicht ein manchmal auftauchendes, ganz schwaches Lächeln der Ruhe und
leidlosen Resignation, wenn der alte Schorsch etwa einem Festzug, einem Kin-
derauflauf, einer Prügelei oder dergleichen zuschaute. Wenn hinter diesem
Lächeln irgend ein bewußter Gedanke stand, so war es der eines ironisch
Zuschauenden, überlegen Unbeteiligten, dem die Wichtigkeit dieser kleinen
menschlichen Händel schon lange lächerlich und kindlich vorkam.
Hauet einander nur , sagte dieses Lächeln,
hauet nur zu! Und meinet-
wegen könnt ihr ja auch Feste feiern, wenns euch Spaß macht. Was kümmerts
mich?
Mein Verstand war noch viel zu klein, um diese Züge zu lesen und sich einen
Reim darauf zu machen. Aber meine Phantasie nahm von dem stillen Alten
Besitz und ließ ihn nicht los, sie liebte ihn und schuf ihn zu einem Wesen um, das mir viel ferner und fremder war als er selber und das doch zu mir gehörte und zum Helden meiner Gedanken wurde; während der Schorsch selber jahraus
jahrein, mir vorüberging und unbekannt blieb. Und wenn ich nun vom alten
Garibaldi erzähle, ist es mehr Geträumtes als Gesehenes, aber lauter Erlebtes, und vielleicht ist das Erfundene so wahr wie das Gesehene; vielleicht erlebte meine Phantasie nichts anderes, als was der Alte hätte erleben können und
sollen, wenn er nur dazu gekommen wäre.
Vom Hof aus führte eine kaum fußbreite, schadhafte und überhängende stei-
nerne Treppe, ein richtiger Halsbrecher, an der alten, weit ausgebauchten Berg-mauer hin in ein winziges Gärtchen hinauf, das dem Nachbar Staudenmeyer
gehörte. Gärtchen ist eigentlich schon viel gesagt, denn das zwischen zwei
in den Berg hineingebauten Hinterhäusern und einer jähen Terrassenmauer
eingeklemmte Stück abschüssigen Bodens war nicht größer als eine tüchtige
Stube. Vom Berge her schwemmte jeder Regen eine Menge Sand heran und
nahm dafür die gute schwarze Erde mit, und auf der einen Seite stand das
Dach des daranstoßenden Hauses so weit über, daß man dort in Wirklichkeit
kaum das Gefühl haben konnte, im Freien zu sein. Die Nachbarin hatte, noch
außer der Witterung und dem Unkraut, um den Besitz ihres Fleckchens Erde
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ohne Unterlaß mit einer großen Schar von verwilderten Katzen und mit einer
nicht kleineren
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