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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Seilers und die Flucht Finkenbeins hatten sich zur allbekannten Moritat gestaltet und umgaben etwa ein halbes Jahr lang das Haus mit blutrünstigen Sagen.
    Allein nach dieser Zeit trieben die Not und die Trägheit wieder manche Gäste 219
    in die
    Alte Sonne
    hinauf, und der Holdria ist von da an nie mehr allein
    dort gesessen. Kuriose und langweilige Brüder hat er kommen, mitessen und
    sterben sehen und ist zur Zeit der Senior einer Hausgenossenschaft von sieben Kumpanen, den Hausvater nicht mitgerechnet. An warmen, angenehmen Tagen sieht man sie häufig vollzählig am Rain des Bergsträßleins hocken, kleine Stummelpfeifen rauchen und mit verwitterten Gesichtern auf die inzwischen
    talauf- und talabwärts etwas größer gewordene Stadt hinunterblicken.
    (1904)
    220
    Garibaldi
    Dieser Tage fuhr ich mit der Eisenbahn von Steckborn nach Konstanz. Durch
    Obstbäume glänzte mattrot der abendliche Untersee, Bauerngärten mit Gera-
    nien, Fuchsien und Georginen leuchteten durch braun und grüne Lattenzäune;
    jenseits des Wassers lag die Reichenau und über Ried und Rebbergen das ho-
    he Horner Kirchlein golden umleuchtet in der milden Abendklarheit. Es war
    noch heiß und ich hatte streng rudern müssen, um den Zug zu erreichen. Nun
    saß ich müde und gedankenlos allein in der Wagenecke und sah durchs offene
    Fenster die wohlbekannten Berge, Matten und Wasser im roten Abenddunst
    verglühen.
    Der Wagen war fast leer. Ein paar Bänke weiter saßen zwei grauhaarige
    Herren in lebhaftem Gespräch beisammen. Ich war zu müd und teilnahmslos,
    um etwas davon zu verstehen; ich hörte nur die einzelnen Worte und nahm
    wahr, daß der eine von den Redenden ein Thurgauer vom See, der andere
    aber ein Zürcher sein müsse, der Sprache nach zu urteilen. Dann interessierte mich auch das nicht mehr, ich lehnte mich träg in die Ecke und begann zu
    gähnen. Ich tat es mit besonderer Hingabe und Wonne, da niemand mich sah
    und ich den Mund nicht zu bedecken brauchte, was ja meistens diesen Genuß
    zur Hälfte verdirbt.
    Da hörte ich in dem benachbarten Gespräch plötzlich mehrmals den Namen
    Garibaldi nennen und war verwundert, daß dieses Wort mich so merkwürdig
    erregte. Was ging mich Garibaldi an?
    Ja wohl, der Garibaldi!
    rief da wieder der Thurgauer laut, und die Be-
    tonung, mit der er den Namen aussprach, weckte mich aus meiner Stumpfheit
    und zwang mich, dem lang nicht mehr gehörten Klange folgend lange Erinne-
    rungswege zu wandern, zurück und weiter zurück bis in die Zeiten, in denen
    jener Name mir vertraut und wichtig gewesen war. Aus kühlen Brunnentiefen
    ferner Kinderjahre wehte mich ein fremder, starker Heimwehzauber an. Und
    als ich spät am Abend von Konstanz zurück war und dann langsam durch
    die bleiche Seenacht meinem Dorf entgegen fuhr, als der leise laue Wind im
    Segel sang und seltene Rufe aus entfernten Fischerbooten übers glatte Wasser wehten, stand ein Stück Kinderzeit und halbvergessenes, glückliches Ehemals
    neu und lebendig vor mir auf.
    221
    Garibaldi war ein Märchen, ein Phantasiebild, eine Dichtung.
    Eigentlich hieß er Schorsch Großjohann, wohnte jenseits unseres gepfla-
    sterten Hofes und trieb das dunkle Gewerbe eines Winkelreinigers, das ihn
    kümmerlich ernährte. Ich wurde aber zehn Jahre alt, ehe ich seinen eigent-
    lichen Namen erfuhr; bis dahin hörte ich ihn nie anders als den Garibaldi
    nennen und wußte nicht, daß schon dieser Name, der mir so wohl gefiel, eine
    Dichtung war. Ihn hatte meine Mutter erfunden, und da ich ohne meine Mut-
    ter nie zum Träumespinner oder Fabulierer geworden wäre, war es billig, daß
    sie auch bei jenem Kindermärchen Pate stand. Sie hatte das Bedürfnis und
    auch die Gabe, ihre ganze Umgebung beständig nach ihrem eigenen, lebhaften
    Geist zu gestalten und zu benennen, und ich darf von dieser ihrer Zauberkunst nicht zu reden anfangen, da ich sonst kein Ende fände.
    So hatte sie auch, schon lang vor meiner Geburt, mit dem alten Winkelreini-
    ger Großjohann, den man täglich mehrmals über unsern Hof gehen sah und mit
    dem man doch kaum alle Jahr einmal ein Wörtlein sprach, nichts anzufangen
    gewußt. Dem schmierigen Winkelreiniger half es nichts, daß er eine mächtige, wetterfeste Figur, breite Schultern und ein abenteuerlich kriegerisches Gesicht mit greisem, langem Doppelbart besaß; an ihm war das nur lächerlich.
    Aber sobald man ihn Garibaldi nannte, war er seines stolzen Äußeren würdig,
    dann umwitterte ihn statt des Winkelgestankes

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