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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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erkennen. Nun rief ich den Freund zu Hilfe, wir brachten das Netz mit Mühe ein und fanden darin den Körper eines etwa fünfjährigen Mädchens. Nun hatte unsere Lustbarkeit
    ein Ende, wir standen alle vier erschrocken und ratlos vor dem dunkeln, ent-
    stellten Körper. Dann fuhren die Knechte eilig heimwärts, um einen zweiten
    Wagen und Polizeihilfe zu holen, denn ein Arzt, das sahen wir wohl, war hier nicht mehr nötig. Wir zwei jungen Menschen standen und saßen nun die halbe
    Nacht bei der Toten, versuchten zu sprechen und hörten wieder auf, zündeten
    immer wieder unsere Pfeifen an und ließen sie immer wieder ausgehen; der
    Wein stand unberührt, und im Eimer lagen unbesehen die gefangenen Fische.
    Das Ereignis, das uns sonst vielleicht nur flüchtig berührt hätte, wurde hier in der Einsamkeit und Finsternis, durch das lange, lange Warten und durch
    den Kontrast zur vorigen Lustigkeit so grausig und traurig, daß ich tagelang darunter litt und es jahrelang niemandem erzählen mochte. Ich habe so viele
    Menschen gekannt, jahrelang mit ihnen Verkehr gehabt und sie, seit sie tot
    sind, fast völlig vergessen; und jener junge Leichnam, dessen Herkunft und
    Schicksale mir so dunkel waren wie der Strom, aus dem ich ihn zog, ist mir
    unvergeßlich geblieben.
    Die rotbraune Schiffermütze, die oben im Kasten hängt, trug ich auf süd-
    lichen Meeren, am längsten um Venedig her, wo ich schöne Wochen auf Lagune
    und Meer verlebte. Dort lernte ich Gondelrudern, Austernfangen und auf ve-
    nezianisch fluchen, trieb mich mit den Fischern von Chioggia und von der
    Giudecca herum und erbaute mich am eigentümlichen Gesang ihrer Frauen.
    Die zwei Sturmfahrten, bei denen ich dem Ertrinken nahe war, sind nichts zum Erzählen; die grellen Stimmungen einer solchen Lage muß man erlebt haben.
    Eher hätte ich Lust, von einem Abend zu plaudern, den ich mit Matrosen auf
    der Giudecca vertrank, bis wir Händel bekamen und ich ums Haar erschlagen
    worden wäre. Zur Ehre Venedigs sei übrigens gesagt, daß die tatkräftigen Burschen nicht Einheimische, sondern Süditaliener waren. Wo mögen sie nun alle
    sein? Verschollen, gestorben, im Meer ertrunken, oder alt geworden wie ich?
    Und die Mädchen von Burano und vom Canareggio? Und die flotten, musika-
    245
    lischen Kameraden, mit denen ich damals so oft in den
    Tre rose
    oder im
    Amico Fritz
    becherte, sang und um Soldi würfelte? Sie sind tot, und jene
    fröhlichen, harmlos glücklichen Zeiten sind samt meiner Jugend verschwun-
    den. Nichts hat Bestand gehabt und ist mir treu geblieben als nur sor aqua,
    meine letzte Liebe.
    Schau, wer hätte gedacht, daß mich grauen Knaben noch sentimentale Be-
    trachtungen überkämen! Sie kleiden mich schlecht. Aber das dünne, weiße
    Haar, die tiefen Falten im Gesicht und der vorsichtig zage Gang kleiden auch nicht gut, wenn man gewohnt war, breitbrüstig und schlankbeinig durch die
    Welt zu pilgern. Ich beginne mich mit Bangen auf das Wiedersehen mit meiner
    Mutter zu freuen. Der werde ich ein gut Stück zu erzählen haben.
    (1904)
    246
    Nocturno Es-Dur
    Die Kerze ist verlöscht. Das Klavier ist verstummt. Durch die dunkle Stille
    treibt der süße Duft der Teerose, die im Gürtel der Klavierspielerin hängt.
    Die Rose ist überreif und beginnt schon zu zerfallen, abgewehte blasse Blätter liegen wie matte helle Flecken am Boden.
    Und Stille . . . Von der Wand her saust ein summender Saitenton eine Saite
    meiner Geige hat nachgelassen.
    Und wieder Stille.
    Fragend beginnt am Klavier ein halber Akkord.
    Soll ich noch?
    Ja.
    Die Nocturne Es-Dur?
    Ja.
    Chopins Es-Dur-Nocturne beginnt. Das Zimmer verwandelt sich. Die Wän-
    de entfernen sich nach allen Seiten, die Fenster wölben hohe Bogen und die hohen runden Bogen sind mit Baumwipfeln und Mondschein gefüllt. Die Wipfel
    neigen sich alle gegen mich her und jeder fragt:
    Kennst du mich noch?
    Und
    das Mondlicht fragt:
    Weißt du noch?
    Meine Hand fährt über meine Stirn hin. Aber das ist nicht meine Stirn
    mehr, die harte, faltige, mit den starken Brauen. Das ist eine feine glatte
    Kinderstirn mit darüber gekämmten seidigen Kinderhaaren, und meine Hand
    ist eine kleine, glatte Kinderhand, und draußen rauschen die Bäume im Garten meines Vaters.
    In dieser Halle bin ich hundertmal gesessen, diese hohen Bogenfenster und
    diese hellen, hohen Wände kennen mich wohl. Und aufhorchend erlausche ich
    leise Klaviermusik – das ist meine Mutter, die in ihrem hohen, duftenden
    Zimmer spielt. Ich

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