Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
Vom Netzwerk:
höre zu und nicke und habe kein Verlangen, zu ihr hinüber zu gehen, sie wird bald ungerufen kommen und mich zu Bett bringen. Doch
    scheint mir die Musik an diesem Abend besonders schön und traurig zu sein.
    Sie verklingt nun fast ganz, sie wird zaghaft, leise und immer trauriger. Und jetzt ist sie zu Ende oder nein, sie beginnt schon wieder, verändert, aber nicht weniger traurig. Mich schmerzt der Kopf, ich schließe die Augen. Diese Musik!
    247
    Ich öffne die Augen wieder, Mondlicht, Park und Kinderzeit sind nicht mehr
    da.
    Wir sind in einem hellen, schmucken Saal, eine Dame am Klavier und ich
    mit meiner hellbraunen Geige. Wir spielen. Wir spielen rasch im eiligsten
    Takt und spielen eine fiebernde Tanzmelodie. Das Gesicht der schönen Dame
    ist vom Spielen schwach gerötet, ihr Mund ist ein wenig geöffnet, in ihren
    blonden Haaren schimmert das Kerzenlicht. Und ihre feinen, langen Hände
    greifen leicht und rasch. Ich muß sie küssen, sobald das Spiel zu Ende ist.
    Das Spiel ist zu Ende. Die schlanken Frauenhände liegen laß in meinen, und
    ich küsse sie langsam, erst die linke und dann die rechte, die zarten Gelenke und die dünnen biegsamen Finger. Darüber lächelt stolz und ruhig die Dame,
    zieht beide Hände langsam zurück und beginnt wieder zu spielen. Brillant,
    kühl, verächtlich und stolz. Ich bücke mich nieder, bis mein Haar ihr duftendes Haar berührt. Ihr Blick fragt kühl und sonderbar herauf. Ich flüstere lang. Sie schüttelt still den Kopf.
    Sag ja!
    Sie schüttelt den Kopf.
    Du lügst! Sag ja!
    Sie schüttelt den Kopf . . .
    Ich gehe fort und gehe lang – mir scheint durch lauter dunklen Wald, und
    weiß nicht, warum es mir so sonderbar weh tut, in den Augen, in der Kehle,
    in der Stirn – und gehe immerzu, bis ich todesmüde bin und rasten muß.
    Indem ich raste und nicht weiß, wo ich bin, erklingt Musik. Ein fabelhafter
    Lauf auf dem Klavier, wunderlich verschlungen, leise, scheu, fieberisch, von wunderbar zarten und gelenken Fingern meisterhaft gespielt. Ich schlage meine müden Augen auf, das Zimmer ist dunkel. Ein starker Teerosenduft ist in der
    Luft. Der letzte tiefe Ton der Nocturne zerrinnt. Die Dame steht vom Flügel
    auf.
    Nun?
    Danke! Danke!
    Ich strecke ihr die Hand entgegen. Sie macht die Rose von ihrem Gürtel
    los, öffnet die Tür und geht und gibt mir im Weggehen die blasse Rose in die Hand. Dann schlägt die Tür ins Schloß, ein kurzer Zugwind geht durch das
    Zimmer.
    Ich halte einen nackten Rosenstengel in der Hand. Der ganze Boden ist mit
    Rosenblättern bedeckt. Sie duften stark und schimmern matt und blaß im
    Dunkeln.
    (1904)
    248
    Der Lateinschüler
    Mitten in dem enggebauten alten Städtlein liegt ein phantastisch großes Haus mit vielen kleinen Fenstern und jämmerlich ausgetretenen Vorstaffeln und
    Treppenstiegen, halb ehrwürdig und halb lächerlich, und ebenso war dem jun-
    gen Karl Bauer zumute, welcher als sechzehnjähriger Schüler jeden Morgen
    und Mittag mit seinem Büchersack hineinging. Da hatte er seine Freude an
    dem schönen, klaren und tückelosen Latein und an den altdeutschen Dichtern
    und hatte seine Plage mit dem schwierigen Griechisch und mit der Algebra,
    die ihm im dritten Jahr so wenig lieb war wie im ersten, und wieder seine
    Freude an ein paar graubärtigen alten Lehrern und seine Not mit ein paar
    jungen.
    Nicht weit vom Schulhaus stand ein uralter Kaufladen, da ging es über
    dunkelfeuchte Stufen durch die immer offene Tür unablässig aus und ein mit
    Leuten, und im pechfinsteren Hausgang roch es nach Sprit, Petroleum und
    Käse. Karl fand sich aber gut im Dunkeln durch, denn hoch oben im selben
    Haus hatte er seine Kammer, dort ging er zu Kost und Logis bei der Mutter
    des Ladenbesitzers. So finster es unten war, so hell und frei war es droben; dort hatten sie Sonne, soviel nur schien, und sahen über die halbe Stadt hinweg,
    deren Dächer sie fast alle kannten und einzeln mit Namen nennen konnten.
    Von den vielerlei guten Sachen, die es im Laden in großer Menge gab, kam
    nur sehr weniges die steile Treppe herauf, zu Karl Bauer wenigstens, denn der Kosttisch der alten Frau Kusterer war mager bestellt und sättigte ihn niemals.
    Davon aber abgesehen, hausten sie und er ganz freundschaftlich zusammen,
    und seine Kammer besaß er wie ein Fürst sein Schloß. Niemand störte ihn
    darin, er mochte treiben, was es war, und er trieb vielerlei. Die zwei Mei-
    sen im Käfig wären noch das wenigste gewesen, aber er hatte auch eine

Weitere Kostenlose Bücher