Die Erzaehlungen 1900-1906
an ihm ab.
Es waren eine sehr scharfe, außerordentliche Vermahnung vom Rektor und
eine schmähliche Arreststrafe nötig, um den Entgleisten wieder auf die Bahn
der Arbeit und Vernunft zu zwingen. Er sah ein, daß es töricht und ärgerlich wäre, gerade vor dem letzten Schuljahr noch sitzenzubleiben, und begann in
die immer länger werdenden Frühsommerabende hinein zu studieren, daß ihm
der Kopf rauchte. Das war der Anfang der Genesung.
Manchmal suchte er noch die Salzgasse auf, in der Tine gewohnt hatte,
und begriff nicht, warum er ihr kein einziges Mal begegnete. Das hatte jedoch seinen guten Grund. Das Mädchen war schon bald nach ihrem letzten Gespräch mit Karl abgereist, um in der Heimat ihre Aussteuer fertigzumachen.
Er glaubte, sie sei noch da und weiche ihm aus, und nach ihr fragen mochte
er niemand, auch die Babett nicht. Nach solchen Fehlgängen kam er, je nach-
dem, ingrimmig oder traurig heim, stürmte wild auf der Geige oder starrte
lang durchs kleine Fenster auf die vielen Dächer hinaus.
Immerhin ging es vorwärts mit ihm, und daran hatte auch die Babett ihren
Teil. Wenn sie merkte, daß er einen übeln Tag hatte, dann kam sie nicht
selten am Abend heraufgestiegen und klopfte an seine Türe. Und dann saß
sie, obwohl sie ihn nicht wissen lassen wollte, daß sie den Grund seines Leides kenne, lange bei ihm und brachte ihm Trost. Sie redete nicht von der Tine,
aber sie erzählte ihm kleine drollige Anekdoten, brachte ihm eine halbe Flasche Most oder Wein mit, bat ihn um ein Lied auf der Geige oder um das Vorlesen
einer Geschichte. So verging der Abend friedlich, und wenn es spät war und die Babett wieder ging, war Karl stiller geworden und konnte ohne böse Träume
schlafen. Und das alte Mädchen bedankte sich noch jedesmal, wenn sie adieu
sagte, für den schönen Abend.
Langsam gewann der Liebeskranke seine frühere Art und seinen Frohmut
wieder, ohne zu wissen, daß die Tine sich bei der Babett öfters in Briefen
nach ihm erkundigte. Er war ein wenig männlicher und reifer geworden, hatte
das in der Schule Versäumte wieder eingebracht und führte nun so ziemlich
dasselbe Leben wie vor einem f Jahre, nur die Eidechsensammlung und das
Vögelhalten fing er nicht wieder an. Aus den Gesprächen der Oberprimaner,
die im Abgangsexamen standen, drangen verlockend klingende Worte über
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akademische Herrlichkeiten ihm ins Ohr, er fühlte sich diesem Paradiese wohlig nähergerückt und begann sich nun auf die Sommerferien ungeduldig zu freuen.
Jetzt erst erfuhr er auch durch die Babett, daß Tine schon lange die Stadt
verlassen habe, und wenn auch die Wunde noch zuckte und leise brannte, so
war sie doch schon geheilt und dem Vernarben nahe.
Auch wenn weiter nichts geschehen wäre, hätte Karl die Geschichte seiner
ersten Liebe in gutem und dankbarem Andenken behalten und gewiß nie ver-
gessen. Es kam aber noch ein kurzes Nachspiel, das er noch weniger vergessen hat.
Acht Tage vor den Sommerferien hatte die Freude auf die Ferien in seiner noch biegsamen Seele die nachklingende Liebestrauer übertönt und verdrängt. Er
begann schon zu packen und verbrannte alte Schulhefte. Die Aussicht auf
Waldspaziergänge, Flußbad und Nachenfahrten, auf Heidelbeeren und Jako-
biäpfel und ungebunden fröhliche Bummeltage machte ihn so froh, wie er lange nicht mehr gewesen war. Glücklich lief er durch die heißen Straßen, und an
Tine hatte er schon seit mehreren Tagen gar nimmer gedacht.
Um so heftiger schreckte er zusammen, als er eines Nachmittags auf dem
Heimweg von der Turnstunde in der Salzgasse unvermutet mit Tine zusam-
mentraf. Er blieb stehen, gab ihr verlegen die Hand und sagte beklommen
grüß Gott. Aber trotz seiner eigenen Verwirrung bemerkte er bald, daß sie
traurig und verstört aussah.
Wie geht’s, Tine?
fragte er schüchtern und wußte nicht, ob er zu ihr
du
oder
Sie
sagen solle.
Nicht gut , sagte sie.
Kommst du ein Stück weit mit?
Er kehrte um und schritt langsam neben ihr die Straße zurück, während
er daran denken mußte, wie sie sich früher dagegen gesträubt hatte, mit ihm
gesehen zu werden. Freilich, sie ist ja jetzt verlobt, dachte er, und um nur etwas zu sagen, tat er eine Frage nach dem Befinden ihres Bräutigams. Da
zuckte Tine so jämmerlich zusammen, daß es auch ihm weh tat.
Weißt du also noch nichts?
sagte sie leise.
Er liegt im Spital, und man
weiß nicht, ob er mit dem Leben davonkommt. – Was ihm fehlt? Von
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