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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Lippe, er genoß es doch; und wenn auch verkannt
    und verschmäht, er war doch der Held in der Szene, der Träger einer stummen
    Tragik, lächelnd mit dem Dolch im Herzen.
    Man trennte sich erst spät. Als Paul in sein kühles Schlafzimmer trat, sah
    er durchs offene Fenster den beruhigten Himmel mit stillstehenden, milchwei-
    ßen Flaumwölkchen bedeckt; durch ihre dünnen Flöte drang das Mondlicht
    weich und stark und spiegelte sich tausendmal in den nassen Blättern der
    Parkbäume. Fern über den Hügeln, nicht weit vom dunklen Horizont, leuch-
    tete schmal und langgestreckt wie eine Insel ein Stück reinen Himmels feucht und milde, darin ein einziger blasser Stern.
    Der Knabe blickte lange hinaus und sah es nicht, sah nur ein bleiches Wo-
    gen und fühlte reine, frisch gekühlte Lüfte um sich her, hörte niegehörte, tiefe Stimmen wie entfernte Stürme brausen und atmete die weiche Luft einer anderen Welt. Vorgebeugt stand er am Fenster und schaute, ohne etwas zu sehen,
    wie ein Geblendeter, und vor ihm ungewiß und mächtig ausgebreitet, lag das
    Land des Lebens und der Leidenschaften, von heißen Stürmen durchzittert
    und von dunkelschwülem Gewölk verschattet.
    Die Tante war die letzte, die zu Bett ging. Wachsam hatte sie noch Türen
    und Läden revidiert, nach den Lichtern gesehen und einen Blick in die dunkle Küche getan, dann war sie in ihre Stube gegangen und hatte sich beim Kerzenlicht in den altmodischen Sessel gesetzt. Sie wußte ja nun, wie es um den Kleinen stand, und sie war im Innersten froh, daß morgen die Gäste wieder
    reisen wollten. Wenn nur auch alles gut ablief! Es war doch eigen, so ein Kind von heut auf morgen zu verlieren. Denn daß Pauls Seele ihr nun entgleiten
    und mehr und mehr undurchsichtig werden müsse, wußte sie wohl, und sie
    sah ihn mit Sorge seine ersten, knabenhaften Schritte in den Garten der Lie-
    be tun, von dessen Früchten sie selber zu ihrer Zeit nur wenig und fast nur
    die bitteren gekostet hatte. Dann dachte sie an Berta, seufzte und lächelte
    ein wenig und suchte dann lange in ihren Schubladen nach einem tröstenden
    Abschiedsgeschenk für die Kleine. Dabei erschrak sie plötzlich, als sie sah, wie 317
    spät es schon war.
    Über dem schlafenden Haus und dem dämmernden Garten standen ruhig
    die milchweißen, flaumig dünnen Wolken, die Himmelsinsel am Horizont wuchs
    langsam zu einem weiten, reinen, dunkelklaren Felde, zart von schwachglän-
    zenden Sternen durchglüht, und über die entferntesten Hügel lief eine milde, schmale Silberlinie, sie vom Himmel trennend. Im Garten atmeten die erfrisch-ten Bäume tief und rastend, und auf der Parkwiese wechselte mit dünnen,
    wesenlosen Wolkenschatten der schwarze Schattenkreis der Blutbuche.
    Die sanfte, noch von Feuchtigkeit gesättigte Luft dampfte leise gegen den
    völlig klaren Himmel. Kleine Wasserlachen standen auf dem Kiesplatz und auf
    der Landstraße, blitzten golden oder spiegelten die zarte Bläue. Knirschend
    fuhr der Wagen vor, und man stieg ein. Der Kandidat machte mehrere tiefe
    Bücklinge, die Tante nickte liebevoll und drückte noch einmal allen die Hände, die Hausmädchen sahen vom Hintergrund des Flurs der Abfahrt zu.
    Paul saß im Wagen Thusnelde gegenüber und spielte den Fröhlichen. Er
    lobte das gute Wetter, sprach rühmend von köstlichen Ferientouren in die
    Berge, die er vorhabe, und sog jedes Wort und jedes Lachen des Mädchens
    gierig ein. Am frühen Morgen war er mit schlechtem Gewissen in den Garten
    geschlichen und hatte in dem peinlich geschonten Lieblingsbeet seines Vaters die prächtigste halboffene Teerose abgeschnitten. Die trug er nun, zwischen
    Seidenpapier gelegt, versteckt in der Brusttasche und war beständig in Sorge, er könnte sie zerdrücken. Ebenso bang war ihm vor der Möglichkeit einer
    Entdeckung durch den Vater.
    Die kleine Berta war ganz still und hielt den blühenden Jasminzweig vors
    Gesicht, den ihr die Tante mitgegeben hatte. Sie war im Grunde fast froh, nun fortzukommen.
    Soll ich Ihnen einmal eine Karte schicken?
    fragte Thusnelde munter.
    O ja, vergessen Sie es nicht! Das wäre schön.
    Und dann fügte er hinzu:
    Aber Sie müssen dann auch unterschreiben,
    Fräulein Berta.
    Sie schrak ein wenig zusammen und nickte.
    Also gut, hoffentlich denken wir auch daran , sagte Thusnelde.
    Ja, ich will dich dann erinnern.
    Da war man schon am Bahnhof. Der Zug sollte erst in einer Viertelstunde
    kommen. Paul empfand diese Viertelstunde wie eine unschätzbare

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