Die Erzaehlungen 1900-1906
gemacht, bei dessen Entdeckung
sich die Tante so furchtbar aufgeregt hatte. Er dachte an diese und andere
Streiche mit einem überlegenen, nachsichtigen Gefühl, als wäre das alles vor Urzeiten gewesen. Kindereien, Kindereien!
Mit einem Seufzer richtete er sich auf, kehrte sich behutsam im Sitze um,
zog sein Taschenmesser heraus und begann am Stamm zu ritzen. Es sollte
ein Herz daraus werden, das den Buchstaben T umschloß, und er nahm sich
vor, es schön und sauber auszuschneiden, wenn er auch mehrere Tage dazu
brauchen sollte.
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Noch am selben Abend ging er zum Gärtner hinüber, um sein Messer schlei-
fen zu lassen. Er trat selber das Rad dazu. Auf dem Rückweg setzte er sich
eine Weile in das alte Boot, plätscherte mit der Hand im Wasser und suchte
sich auf die Melodie des Liedes zu besinnen, das er gestern von hier aus hatte singen hören. Der Himmel war halb verwölkt, und es sah aus, als werde in der Nacht schon wieder ein Gewitter kommen.
(1905)
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Aus den Erinnerungen eines alten
Junggesellen
Das nachstehende Kapitel entstammt dem Nach-
laß eines im Alter von neunzig Jahren gestorbe-
nen Mannes, eines Sonderlings und Einspänners
vielleicht, der aber bis in seine letzten Jahre im
Herzen jung geblieben und mir ein verehrter,
lieber Freund gewesen ist. Seine umfangreichen
Aufzeichnungen sind so rein persönlich und so
gar nicht aktuell, daß ich heute diesen typischen
Abschnitt dem Druck übergebe. Vielleicht fin-
den Freunde einer stillen, dankbaren und heite-
ren Lebensbetrachtung sympathische Züge dar-
in, wie denn mir selbst der Umgang mit dem
Verfasser nicht nur lieb und wertvoll, sondern in
mancher Hinsicht fürs Leben bestimmend gewe-
sen ist.
H. H.
Meine Mutter
Neben dem ganz eingesunkenen Hügel, dessen eisernes Kreuz meines Groß-
vaters Namen trägt, liegt das schmale, mit Efeu überwachsene Grab, in das
meine Mutter am 11. April des Jahres 1836 gelegt wurde. Sie soll lächelnd und lieblich im Sarg gelegen und ihre letzten Leidenstage soll sie wie einen Triumph der erlösten Seele begangen haben. Ich aber war damals in der Fremde, weit
von Hause, und saß am Tag ihrer Beerdigung mit lustigen Kameraden im
Wirtshaus; denn ich wußte noch nichts von ihrem Tode, dessen Kunde erst
einen Tag später zu mir gelangte und bitteres Weh über mein unerfahrenes
junges Gemüt brachte. Damals fühlte ich dunkel, daß mit ihr das beste Stück
Heimat und Kindheit mir entrissen und in den tiefen Märchenbrunnen der
Erinnerung und Sehnsucht gefallen sei. Ich fühle heute dasselbe, nur daß der Mutter seither noch viele Lieben und meine ganze Jugend nachfolgten, welches alles jetzt in goldenem Glanze fernab und unerreichbar liegt und mir beim Hinüberschauen das Herz mit wunderlich zartem Schmerz berückt.
O meine liebe Mutter! Ich habe von ihr ein kleines goldenes Medaillon mit
meinem eigenen Haar darin, dem weichen lichtblonden eines Vierjährigen,
dann noch zwei Bücher und ein paar Bilder, sonst nichts mehr als das Gefühl
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unverminderter Dankbarkeit und die Erinnerung an ihr überaus gütiges und
edles Wesen. So will ich denn mir selbst zu einem Abendtrost das Wenige
aufschreiben, das ich von ihr und zu ihren Ehren zu sagen weiß.
Als sich meine Mutter Charlotte, vermutlich ihrem Vater zuliebe, im Jah-
re 1800 zum erstenmal in ihrem Leben malen ließ, ist sie keinem Genie von
Maler in die Hände gefallen, und das ist schade. Doch hat auch jener Hand-
werker oder Dilettant, der das blaßfarbene Aquarell damals anfertigte, die edle Form von Kopf, Hals und Schultern nicht ganz entstellen können. Ja, obwohl
er die Fläche des Gesichts nicht zu modellieren verstand, blieb doch von der ungewöhnlichen Anmut und Lebendigkeit desselben ein Schimmer in seiner
Arbeit zurück. Mit mehr Sorgfalt und Glück ist die Frisur à la Charlotte Cor-day, die rosaseidene Taille mit apfelgrünen Schulterschleifen und die schmale krause Rüsche, die den zarten Hals umschließt, zur Darstellung gekommen.
Das Urbild dieser schwächlichen Malerei war damals nicht nur der Stolz
des Vaters, sondern auch Augenweide und umworbener Liebling der jungen
Männerwelt, ebenso durch Schönheit und Witz wie durch ihren herrlichen
Gesang stadtbekannt. Zu jener Zeit drängten sich im Hause des wohlhaben-
den Vaters bei zahlreichen Mittags- und Abendgesellschaften, musikalischen
und literarischen Kränzchen die jungen Herren in farbigen Leibröcken, sei-
denen Westen und
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