Die Erzaehlungen 1900-1906
zu reden. Du hast mich um
etwas gebeten, was ich nicht gewähren kann. Das tut mir leid, aber zu ändern ist nichts daran.
Kornelie, es ist die letzte Bitte eines Sterbenden. Denkst du daran nicht
auch?
Ja, ich denke schon. Aber ich denke noch mehr daran, daß ich über das
ganze Leben des Buben entscheiden soll, und das darf ich so wenig, wie du es darfst.
Warum nicht? Es ist etwas, was jeden Tag vorkommt. Wenn ich gesund
geblieben wäre, hätte ich aus Walter doch auch gemacht, was mir recht ge-
schienen hätte. Jetzt will ich wenigstens dafür sorgen, daß er auch ohne mich Weg und Ziel vor sich hat und zu seinem Besten kommt.
Du vergißt nur, daß er uns beiden gehört. Wenn du gesund geblieben wärst,
hätten wir beide ihn angeleitet, und wir hätten es abgewartet, was sich als das Beste für ihn gezeigt hätte.
Der kranke Herr verzog den Mund und schwieg. Er schloß die Augen und
besann sich auf Wege, doch noch in Güte zum Ziel zu kommen. Allein er fand
keine, und da er Schmerzen hatte und nicht sicher sein konnte, ob er morgen
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noch das Bewußtsein haben werde, entschloß er sich zum letzten.
Sei so gut und bring ihn her , sagte er ruhig.
Den Walter?
Ja, aber sogleich.
Frau Kornelie ging langsam bis an die Tür. Dann kehrte sie um.
Tu es
lieber nicht!
sagte sie bittend.
Was denn?
Das, was du tun willst, Hugo. Es ist gewiß nicht das Rechte.
Er hatte die Augen wieder zugemacht und sagte nur noch müde:
Bring
ihn her!
Da ging sie hinaus und in die große, helle Vorderstube hinüber, wo Walter
über seinen Schulaufgaben saß. Er war zwischen zwölf und dreizehn, ein zarter und gutwilliger Knabe. Im Augenblick war er freilich verscheucht und aus
dem Gleichgewicht, denn man hatte ihm nicht verheimlicht, daß es mit dem
Vater zu Ende gehe. So folgte er der Mutter verstört und mit einem inneren
Widerstreben kämpfend in die Krankenstube, wo der Vater ihn einlud, neben
ihm auf dem Bettrand zu sitzen.
Der kranke Mann streichelte die warme, kleine Hand des Knaben und sah
ihn gütig an.
Ich muß etwas Wichtiges mit dir sprechen, Walter. Du bist ja schon groß
genug, also hör gut zu und versteh mich recht. In der Stube da ist mein Vater und mein Großvater gestorben, im gleichen Bett, aber sie sind viel älter geworden als ich, und jeder hat schon einen erwachsenen Sohn gehabt, dem er das
Haus und den Laden und alles hat ruhig übergeben können. Das ist nämlich
eine wichtige Sache, mußt du wissen. Stell dir vor, daß dein Urgroßvater und dann der Großvater und dann dein Vater jeder viele Jahre lang hier geschafft hat und Sorgen gehabt hat, damit das Geschäft auch in gutem Stand an den
Sohn komme. Und jetzt soll ich sterben und weiß nicht einmal, was aus allem
werden und wer nach mir der Herr im Hause sein soll. Überleg dir das einmal.
Was meinst du dazu?
Der Junge blickte verwirrt und traurig vor sich nieder; er konnte nichts
sagen und konnte auch nicht nachdenken, der ganze Ernst und die feierliche
Befangenheit dieser sonderbaren Stunde in dem dämmernden Zimmer umgab
ihn wie eine schwere, dicke Luft. Er schluckte, weil ihm das Weinen nahe war, und blieb in Trauer und Verlegenheit still.
Du verstehst mich schon , fuhr der Vater fort und streichelte wieder seine
Hand.
Mir wär es sehr lieb, wenn ich nun ganz gewiß wissen könnte, daß du,
wenn du einmal groß genug bist, unser altes Geschäft weiterführst. Wenn du
mir also versprechen würdest, daß du Kaufmann werden und später da drunten
alles übernehmen willst, dann wäre mir eine große Sorge abgenommen, und
ich könnte viel leichter und froher sterben. Die Mutter meint –
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Ja, Walter , fiel die Frau Kornelie ein,
du hast gehört, was der Vater
gesagt hat, nicht wahr? Es kommt jetzt ganz auf dich an, was du sagen willst.
Du mußt es dir nur gut überlegen. Wenn du denkst, es wäre vielleicht bes-
ser, daß du kein Kaufmann wirst, so sag es nur ruhig; es will dich niemand
zwingen.
Eine kleine Weile schwiegen alle drei.
Wenn du willst, kannst du hinübergehen, und es noch bedenken, dann ruf
ich dich nachher , sagte die Mutter. Der Vater heftete die Blicke fest und
fragend auf Walter, der Knabe war aufgestanden und wußte nichts zu sagen.
Erfühlte, daß die Mutter nicht dasselbe wolle wie der Vater, dessen Bitte ihm nicht gar so groß und wichtig schien. Eben wollte er sich abwenden, um hinauszugehen, da griff der Leidende noch einmal nach seiner Hand, konnte sie aber nicht erreichen.
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