Die Erzaehlungen 1900-1906
unbehindert folgen könne. Und jetzt ging
ihr vielleicht mit dem Vater auch das Kind verloren.
Der Kranke konnte bis spät in die Nacht hinein schlafen. Dann erwachte
er mit Schmerzen, und gegen Morgen hin war es deutlich zu sehen, daß er
abnahm und die letzten Kräfte rasch verlor. Doch gab es dazwischen noch
einen Augenblick, wo er klar zu reden vermochte.
Du , sagte er.
Du hast doch gehört, daß er es mir versprochen hat?
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Ja, freilich. Er hat es versprochen.
Dann kann ich darüber ganz ruhig sein?
Ja, das kannst du.
Das ist gut. – Du, Kornelie, bist du mir böse?
Warum?
Wegen Walter.
Nein, du, gar nicht.
Wirklich?
Ganz gewiß. Und du mir auch nicht, nicht wahr?
Nein, nein. O du! Ich
dank dir auch.
Sie war aufgestanden und hielt seine Hand. Die Schmerzen kamen, und er
stöhnte leise, eine Stunde um die andere, bis er am Morgen erschöpft und still mit halb offenen Augen lag. Er starb erst zwanzig Stunden später.
Die schöne Frau trug nun schwarze Kleider und der Knabe ein schwarzes
Florband um den Arm. Sie blieben im Hause wohnen, der Laden aber wurde
verpachtet. Der Pächter hieß Herr Leipolt und war ein kleines Männlein von einer etwas aufdringlichen Höflichkeit. Zu Walters Vormund war ein gutmütiger
Kamerad seines Vaters bestimmt, der sich selten im Hause zeigte und vor der
strengen und scharfblickenden Witwe einige Angst hatte. Übrigens galt er für einen vorzüglichen Geschäftsmann. So war fürs erste alles nach Möglichkeit
wohlbestellt, und das Leben im Hause Kömpff ging ohne Störungen weiter.
Nur mit den Mägden, mit denen schon zuvor eine ewige Not gewesen war,
haperte es wieder mehr als je, und die Witwe mußte sogar einmal drei Wochen
lang selber kochen und das Haus besorgen. Zwar gab sie nicht weniger Lohn
als andere Leute, sparte auch am Essen der Dienstboten und an Geschenken
zu Neujahr keineswegs, dennoch hatte sie selten eine Magd lang im Hause.
Denn während sie in vielem fast freundlich war und namentlich nie ein grobes Wort hören ließ, zeigte sie in manchen Kleinigkeiten eine kaum begreifliche
Strenge. Vor kurzem hatte sie ein fleißiges, anstelliges Mädchen, an der sie sehr froh gewesen war, wegen einer winzigen Notlüge entlassen. Das Mädchen
bat und weinte, doch war alles umsonst. Der Frau Kömpff war die geringste
Ausrede oder Unoffenheit unerträglicher als zwanzig zerbrochene Teller oder
verbrannte Suppen.
Da fügte es sich, daß die Holderlies nach Gerbersau heimkehrte. Die war
längere Jahre auswärts in Diensten gewesen, brachte ein ansehnliches Erspar-
tes mit und war hauptsächlich gekommen, um sich nach einem Vorarbeiter aus
der Deckenfabrik umzusehen, mit dem sie vorzeiten ein Verhältnis gehabt und
der seit langem nicht mehr geschrieben hatte. Sie kam zu spät und fand den
Ungetreuen verheiratet, was ihr so nahe ging, daß sie sogleich wieder abreisen 378
wollte. Da fiel sie durch Zufall der Frau Kömpff in die Hände, ließ sich trösten und zum Dableiben überreden und ist von da an volle dreißig Jahre im Hause
geblieben.
Einige Monate war sie als fleißige und stille Magd in Stube und Küche tätig.
Ihr Gehorsam ließ nichts zu wünschen übrig, doch scheute sie sich auch ge-
legentlich nicht, einen Rat unbefolgt zu lassen oder einen erhaltenen Auftrag sanft zu tadeln. Da sie es verständiger und gebührlicher Weise und immer mit voller Offenheit tat, ließ die Frau sich darauf ein, rechtfertigte sich und ließ sich belehren, und so kam es allmählich, daß unter Wahrung der herrschaftli-chen Autorität, die Magd zu einer Mitsorgerin und Mitarbeiterin herangedieh.
Dabei blieb es jedoch nicht. Sondern eines Abends kam es wie von selber, daß die Lies ihrer Herrin am Tisch bei der Lampe und feierabendlichen Handarbeit ihre ganze sehr ehrbare, aber nicht sehr fröhliche Vergangenheit erzählte, worauf Frau Kömpff eine solche Achtung und Teilnahme für das ältliche Mädchen
faßte, daß sie ihre Offenherzigkeit erwiderte und ihr selber manche von ihren streng behüteten Erinnerungen mitteilte. Und bald war es beiden zur Gewohnheit geworden, miteinander über ihre Gedanken und Ansichten zu reden.
Dabei geschah es, daß unvermerkt vieles von der Denkart der Frau auf die
Magd überging. Namentlich in religiösen Dingen nahm sie viele Ansichten
von ihr an, nicht durch Bekehrung, sondern unbewußt, aus Gewohnheit und
Freundschaft. Frau Kömpff war zwar eine Pfarrerstochter, aber keine ganz
orthodoxe, wenigstens
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