Die Erzaehlungen 1900-1906
überrascht habe, wie wichtig seine Frage auch für ihr ganzes Leben sei, sie redete ihm
zu wie einem ungestümen Knaben, dem man einen Herzenswunsch nicht mit
einem Wort abschlagen will. Er lächelte.
Sie sind so gütig , sagte er.
Nicht wahr, Sie haben Angst für mich, und
auch ein wenig Angst vor mir?
Betroffen sah sie ihn an. Er fuhr fort.
Ich danke Ihnen, Fräulein Lisa. Sie wollten nicht so geradezu Nein sagen.
Aber ich habe schon verstanden. Also danke schön, und leben Sie wohl!
Sie wollte ihn zurückhalten.
Nein , sagte er,
lassen Sie nur! Ich gehe nicht, um Gift zu nehmen.
Wirklich nicht. Leben Sie wohl!
Sie gab ihm die Hand. Er hielt sie fest, führte sie an die Lippen, ohne sich zu bücken, besann sich einen Augenblick, gab sie dann plötzlich frei und ging hinaus. Im Gang gab er sogar dem Mädchen ein Trinkgeld.
Brahm hatte nun eine schwere Zeit. Er wußte genau, daß nur Arbeit ihn ins
Leben zurückführen konnte, aber lange Zeit verzweifelte er daran, je wieder
die selbstlose Vergessenheit seiner guten Jahre zu gewinnen. In jenem Dorf
am Oberrhein hatte er sich eingemietet und strich in der Gegend umher,
sah immer wieder in den vom Herbstnebel bis zur Unwirklichkeit verwisch-
ten Uferstrichen und Baumgruppen künftige Bilder und konnte doch keine
paar Stunden stillsitzen und das vergessen, was er durchaus vergessen wollte.
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Gesellschaft hatte er nicht, er hätte bei seinen sonderlinghaften Einsiedlerge-wohnheiten auch nichts mit ihr anzufangen gewußt.
Eines Abends, nachdem er in trostlosem Hinbrüten seine gewohnte Flasche
Wein getrunken hatte, fürchtete er das frühe Zubettgehen und ließ sich, ohne viel dabei zu denken, eine zweite Flasche geben. Mit schweren Gliedern legte er sich dann ziemlich berauscht nieder, schlief wie ein Stein und erwachte spät am andern Tage mit einem sonderbar ungewohnten Gefühl müder Willenlosigkeit,
das ihn den halben Tag verträumen ließ.
Zwei Tage später, als das alte Leidwesen wieder mächtig werden wollte, pro-
bierte er dasselbe Mittel, und dann mehrmals wieder. Eines Tages spannte er, trotz der nassen Kühle, draußen eine neue Leinwand auf. Eine Reihe Studien
entstand. Große Pakete aus Karlsruhe und München kamen an, Sendungen
von Kartons, Holztafeln, Farben. Innerhalb sechs Wochen wurde nahe beim
Stromufer ein primitives Atelier gebaut. Und bald nach Weihnachten war ein
großes Bild fertig,
Erlen im Nebel , und gilt jetzt für eines der besten Werke
des Malers.
Auf diese erregte, köstlich fieberische Arbeitszeit folgte ein Rückschlag. Tagelang trieb sich Brahm draußen herum, bei Schnee und Sturm, um schließlich
irgendwo in einer Dorfschenke nach einer stillen Zecherei betrunken ins Bett geschafft zu werden. Tagelang lag er auch im Atelier auf ein paar Decken, mit wüstem Kopf und voll Jammer und Ekel.
Aber im Frühjahr malte er wieder.
So trieb er es nun Jahr um Jahr. Öfters gelang es ihm, wochenlang müßig
zu sein und doch zu arbeiten. Dann kam wieder ein Umfall. Und schließlich
brachte er einmal, nach einem zornig vertrunkenen Tage, eine kalte Märznacht auf dem freien Feld zu, erkältete sich schwer und starb einsam und schlecht
verpflegt. Er war schon begraben, als auf die Notiz einer Zeitung hin ein
Verwandter hergereist kam, um nach ihm zu sehen. Unter den Bildern, die
er hinterließ, war ein merkwürdiges Selbstporträt aus seiner letzten Zeit. Ein gründlich und rücksichtslos studierter Kopf, häßlich verwahrloste Züge eines alternden Trinkers, leicht grinsend, und ein unentschlossen trauriger Blick.
Aus irgendeinem Grunde hatte Brahm jedoch über das fertig ausgeführte,
gewiß nicht ohne peinliche Selbstironie gemalte Bild kreuzweis zwei dicke rote Pinselstriche gezogen.
(1906)
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Eine Fußreise im Herbst
Seeüberfahrt
Ein sehr kühler Abend, feucht, ungastlich und früh dunkelnd. Auf einem stei-
len Sträßlein, zum Teil lehmiger Hohlweg, war ich vom Berge herabgestiegen
und stand am Seeufer allein und fröstelnd. Nebel rauchte jenseits von den
Hügeln, der Regen hatte sich erschöpft, und es fielen nur noch einzelne Tropfen, kraftlos und vom Winde vertrieben.
Am Strande lag ein flaches Boot halb auf den Kies gezogen. Es war gut
imstande, sauber gemalt, kein Wasser am Boden, und die Ruder schienen
ganz neu zu sein. Daneben stand eine Wartehütte aus Tannenbrettern, unver-
schlossen und leer. Am Türpfosten hing ein altes messingenes Horn, mit einer dünnen Kette befestigt.
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